Kapitel 37

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Die nächsten Tage verläuft einer wie der andere. An den Trainingstagen üben wir fleißig und erzielen dabei kleine Fortschritte. An den Ruhetagen lese ich oder folge Nellis Motivation und mache etwas für die Schule.

Ab und zu gehe ich schwimmen. Jedoch kann ich nicht mehr so lange im Wasser bleiben, da es mit jedem Tag kühler wird. Aber ich möchte es auch nicht missen, ich brauche die Kraft der Stille. Sie ist mein Anker, mein Neutralisationspunkt.

Ich bin mir sicher, dass die Energie, die ich in dieser Zeit erlange - möge sie noch so kurz sein – essentiell für meine Fortschritte ist. Die Freude über diese wird allerdings gedämmt durch die Trauer, die mir begegnet, wenn Gabriels und meine Augen aufeinandertreffen.

Die Distanz tut ihm weh, eben wie mir. Aber bislang halte ich sie für notwendig. Kein Risiko kann ich eingehen – es wäre leichtsinnig, das kann ich mir nicht mehr erlauben. Meistens gehe ich ihm deshalb einfach aus dem Weg, scheue mich vor einer Konfrontation. Ich weiß, dass er es merkt, dass es ihn verletzt. Aber wenigstens lebt er, wenigstens habe ich ihn dadurch noch nicht körperlich verletzt, oder gar umgebracht. Es ist das richtige. Anders geht es nicht.

Auch heute verschwinde ich aus der Hütte und verkrümle mich zum See. Nach einem tiefen Atemzug tauche ich in das, meines Erachtens viel zu kalte Wasser ein und schwimme schnell einige Züge, um wieder warm zu werden.

Unter Wasser ist es deutlich wärmer. Hier scheint generell alles besser zu sein. Du bist nicht allein Rufe ich mir Nellis Worte ins Gedächtnis, als Motivation, um wieder aufzutauchen. Aber je länger die Stimme noch meinen Geist vernebelt, desto schwieriger wird es an diesem Leben festzuhalten.

Schnell trockne ich mich ab und streife mir meine warmen Klamotten über, um nicht krank zu werden. Wer weiß, wie leicht es die Stimme dann hat, alle Fortschritte zu Nichten zu machen – ich wäre verloren, endgültig.

Ich laufe zurück zur Hütte, lasse mir die Hände von Nelli fesseln und folge ihr in die Küche. Dort treffen wir auf Gabriel, der die letzten Tage immer mit uns gegessen hat. Es ist, wie Nelli gesagt hat, er nutzt jede Gelegenheit um mir irgendwie nah zu sein. Vor dem Ganzen hier, wäre ich wahrscheinlich peinlich berührt rot angelaufen. Aber die Zeiten sind vorbei.

Jetzt stehe ich nur vor dem Problem: Wie will ich damit umgehen? Was ist richtig, was falsch? Was ist okay? Und schließlich: Was ist zu nah und damit zu gefährlich? Alles Fragen, auf die ich keine Antwort habe. Aber wie will man hier auch überhaupt eine finden, wenn jede Fehlentscheidung ein verlorenes Leben bedeuten kann?

Nach dem Essen folge ich Nelli in ihr Zimmer, um meinen Rückstand in der Schule ein wenig aufzuholen. Sie hatte darauf bestanden, als sie vor zwei Tagen zufällig gesehen hatte, wie weit ich wirklich zurückliege.

Stück für Stück beginnen wir erstmal damit eine Übersicht darüber zu erstellen, was ich überhaupt noch alles machen muss. Einiges streichen wir, wenn wir es für unwichtig erachten. Außerdem machen wir eine Prioritätenliste an Abgaben. Erst als wir damit fertig sind, fangen wir mit der eigentlichen Schularbeit an.

Nach mehreren Stunden, inklusive einer Abendbrotspause, können wir tatsächlich stolz auf große Erfolge zurückblicken. Einige Punkte sind zwar noch nicht abgehakt, aber das werde ich die nächsten Tage leicht schaffen. Ich bedanke mich für Nellis fleißige Hilfe, dann treten wir in den Flur, um mich in mein Zimmer zu bringen.

"Kann ich das machen?" Gabriel lehnt an der Gegenüberliegenden Wand und lacht uns fast schüchtern entgegen.

"Wieso nicht", ergreift Nelli vor mir das Wort und verschwindet wieder in ihrem Zimmer. Wütend fixiere ich die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte. Wie gut, dass ich ein Mitspracherecht habe.

Ich drehe mich zu Gabriel, welcher sich automatisch etwas aufrichtet. Ich gehe an ihm vorbei zum Zimmer, er folgt mir stumm. An der Tür warte ich darauf, dass er mich losmacht und einschließt, doch er drängt mich nur hinein und schließt die Tür hinter sich.

"Was soll das?", frage ich empört.

"Was das soll?" Erschrocken über seine gehobene Stimme zucke ich zusammen. "Isa, ich frage mich was das soll." Er zeigt mit den Fingern zwischen uns beiden hin und her. "Ständig versuche ich zu dir zu gelangen, aber du stößt mich weg. Tu mir das nicht an Isa. Du weißt genau so, wie ich, dass ich dir nicht fernbleiben kann."

Ich kann nichts erwidern. Wie erstarrt stehe ich einfach nur da und existiere. Ich möchte antworten, doch kein Wort dieser Welt könnte meine Gefühle ebenbürtig ausdrücken. Also lasse ich meine Augen sprechen. Ich sehe in seinen, dass er mich versteht. In dem Moment scheinen sie aufzuleuchten. Er mustert mich daraufhin so eingehend, dass ich seinen Blick, wie eine Berührung auf meiner Haut spüren kann. Gänsehaut breitet sich aus, lässt mich erzittern, obwohl mir immer wärmer wird.

Gabriel geht einen Schritt auf mich zu. Ich folge seinem Beispiel. Mein Blick ruht nur auf seinem Gesicht, blendet alles andere aus und doch kann ich mich nicht sattsehen, an seinen eisblauen Augen, den wohlgezogenen Wangenknochen, seinen Lippen, welche mich still auffordern die restliche Distanz zwischen uns zu überwinden, um einander endlich Haut auf Haut zu begegnen.

Gabriel setzt meine Gedanken in die Tat um. Gierig zieht er mich an sich. Unsere Lippen treffen aufeinander. Es ist als würde ich das erste Mal seit langem wieder richtig Luftholen. Die kritischen Stimmen verschwinden, lassen dem freien Lauf, was nun bereits begonnen hat. Pures Verlangen, dass durch nichts zu bändigen ist, nicht einmal durch die Stimme, die ich nur sachte im Hintergrund wahrnehme.

Keuchend lösen wir uns voneinander. Er greift nach den Fesseln, will sie lösen, aber ich ziehe meine Hände zurück.

"Lass sie dran. Es wird auch mit ihnen gehen. So ist es vielleicht weniger gefährlich." Skeptisch sieht er mich an. "Sicher?"

"Super sicher." Ich hebe meine Arme und lege sie um seinen Hals, ziehe ihn an mich. Seine Hände finden meine Taille, an der er mich sanft zum Bett schiebt. Angekommen lassen wir uns zusammen auf die Matratze plumpsen.

Kaum haben wir uns gefangen, ziehe ich ihn in einen weiteren Kuss. Dieses Mal ist er sanfter, geleitet von Gefühlen, statt reiner Lust. Seine Hände erforschen meinen Körper, hinterlassen kleine Hitzewellen, die sich von der berührten Stelle aus, hin zu meinem Herzen bewegen, um dieses jedes Mal aufs Neue ein wenig höher schlagen zu lassen.

"Ich bin dran", flüstere ich nach einer Weile. Stumm akzeptiert er, indem wir uns einmal drehen, sodass ich nun oben liege. Da mir die Hände gebunden sind, erkunde ich seinen Körper mit dem Mund. Jeden Zentimeter seiner Haut, der sich mir Stück für Stück offenbart, liebkoste ich. Angefangen bei seinem Gesicht, bis hin zu seinem Bauchnabel, nur um dann wieder auf seine Lippen zu treffen.

Er drückt mich an sich, wechselt wieder die Position, sodass er erneut mit seinem Gewicht mich tiefer in die Matratze drückt. Und dann ist da dieser Moment, dieses Gefühl, dass ich bereit bin. Bereit ihm alles von mir zu geben. Alles zu offenbaren. Alles zu teilen, ohne Scham, ohne Hemmungen und völlig frei von Angst vor dem was kommt. Ich bin bereit eins zu werden.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt