Kapitel 32

8 2 5
                                    

Vor mir erscheint eine alte Frau, deren Rücken wahrscheinlich schon bessere Tage erlebt hat. Es ist ein Wunder, dass sie noch laufen kann, ohne vorne über zu kippen.

"Ich möchte zu Phillip." Die Alte nickt, bedeutet mir zu folgen.

Ich komme mir vor, wie in einer dieser Vampierfilme. Die dunklen Steinwände und die engen Flure, in denen das einzige Licht ein paar Fackeln werfen, tun ihr Bestes, mir ein mulmiges Gefühl zu geben. Dazu kommt die gruselige Alte, die vor mir entlang humpelt.

Sie bedeutet mir vor einer weiteren Holztür zu warten. "Rühre dich nicht vom Fleck, klar?" Ich nicke. Sie mustert mich ein letztes Mal, dann verschwindet sie in den Raum. Ich bin allein.

Was ist das hier? Durch wen sehe ich? Hat Ludwig Geheimnisse gehabt? Ist das die Lösung für mein Problem?

Ich beschließe mir alles gut einzuprägen, um es später Nelli exakt wiederzugeben. Vielleicht hilft es ja irgendwas.

Kurze Zeit später öffnet sich die Tür und die Alte winkt mich hinein.

Ich betrete einen Raum, der so gar nicht zu dem passt, was ich bis jetzt von diesem Gebäude sehen durfte. Keine kalten Steine, kein modriger Geruch und vor allem mehr Licht.

In der Mitte des Raumes erblicke ich einen schicken Holztisch, hinter dem ein zierlicher alter Mann sitzt, der mir entgegenstrahlt. Ich erwidere sein Lächeln.

"Immer wieder eine Freude dich zu sehen." Er erhebt sich und deutet mit der Hand auf den gegenüberliegenden Stuhl.

Und ich weiß auch warum. Ich greife nach meinem Beutel und wedle damit vorsichtig herum, sodass es klirrt.

"Hast du -"

"Ich habe alles dabei und sogar eine kleine neue Überraschung nur für dich." Ich trete näher an den Tisch, greife in meinen Beutel und ziehe eine der Fläschchen hervor ...

Ich erkenne Gabriels Gesicht vor mir. Er sieht besorgt aus.

Was macht er hier? Langsam kommen die Erinnerungen wieder. Ich habe ihn angegriffen, geschlagen. Die Stimme wollte ihn umbringen. Ich blinzle einige Male.

"Sie ist wach", sagt Gabriel zu einer Person hinter sich. Nelli erscheint im Bild. Sie ist deutlich entspannter, sie kennt das schon – so traurig es ist.

"Da bist du ja wieder Larissa, das ging ja schnell." Sie grinst und prüft meine Fesseln.

Meine Hände sind nach hinten gebunden. Wie ein Entführungsopfer sitze ich an einen Stuhl gebunden. Nur das ich hier diejenige bin, vor der man Angst haben muss.

"Hast du was geträumt?" Gespannt wippt sie auf der Stelle herum.

"Ja. Erzähle ich dir, wenn ich wieder klar denken kann." Mein Blick fällt auf Gabriel.

Er vernebelt meine Gedanken, jedoch nicht auf eine gute Weise. Es ist die Stimme, sie ist unglaublich laut, viel lauter, als bei Nelli. Sie hindert mich daran klar zu denken. Die Fesseln schneiden in meine Handgelenke, doch ich kann nicht aufhören mich versuchen zu befreien. Am liebsten würde ich mich nach vorne auf ihn stürzen, dem Ruf der Stimme folgen, um endlich Erlösung zu finden. Sie ist unaushaltbar laut.

"Er sollte nicht hier sein", bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

"Isa, ich weiß alles."

Fassungslos sehe ich von Nelli zu Gabriel. Wie konnte sie nur. Der Drang mich einfach von meinen Fesseln loszureißen und die beiden zur Strecke zu bringen wächst. Es wundert mich, dass Gabriel überhaupt noch hier ist, wenn ihm Nelli wirklich alles erzählt hat.

"Ich dachte es wäre ganz gut, wenn du mit zwei Personen üben könntest. Dann können wir langfristig wahrscheinlich bessere Ergebnisse erzielen." Sie kommt einen Schritt auf mich zu.

"Bitte, Larissa, sei nicht böse. Ich habe das in deinem Sinne getan. Es tut mir leid, aber ich denke es ist besser so."

Gabriel nickt zustimmend. "Ich glaube dir."

"Was?", stottre ich.

"Ich glaube an deine Unschuld. Deswegen bin ich bereit dir, gemeinsam mit Nelli, zu helfen. Damit du ihr zurück in eure Leben könnt."

Die Stimme wird leiser, nur minimal, aber sie wird ruhiger. Sie hat immer noch die Überhand, aber das Gefühl der Hoffnung, dass er in mir mit seinen Worten auslöst, nimmt der Stimme etwas Raum. Eine kleine Last fällt von meinen Schultern, sodass ich, wenn auch nur kurz, aufatmen kann.

"Danke", flüstre ich. Mehr bringe ich nicht zu Stande, so überwältigt ich bin.

"Aber es ist gefährlich. Ich bin gefährlich. Ich denke es ist besser, wenn du gehst."

Er schüttelt vehement den Kopf. "Nein, das werde ich nicht tun. Du wirst mich nicht wieder abweisen. Isa, ich bin bald verrückt geworden, als du einfach verschwunden bist, ich nicht wusste wie es dir geht, oder wo du bist. Das kannst du mir nicht wieder antun. Bitte, lass mich dir helfen. Zusammen schaffen wir das, da bin ich mir so sicher, wie Nelli."

Er will einen Schritt auf mich zugehen, doch mein Blick hält ihn auf. Hilfesuchend sieht er zu Nelli. Aber die scheint selbst noch nicht richtig zu wissen wie sie mit der Situation umgehen soll.

Sie zieht Gabriel mit sich bei Seite, flüstert ihm dort etwas ins Ohr. Er schenkt mir einen letzten traurigen Blick, dann verlässt er den Raum.

Mit ihm verschwindet die erbarmungslose Präsenz der Stimme. Langsam gewinne ich die Kontrolle zurück und kann wieder klarer denken.

"Besser?", fragt Nelli nach einer Weile.

Ich nicke, dankbar, dass sie mir einen Moment der Ruhe gegönnt hat. "Viel besser. Ich habe ganz vergessen wie laut die Stimme werden kann. Selbst wenn ich dich angreife ist ihre Kraft ein Witz gegen das, was ich gerade wieder gefühlt habe. So war es auch bei den Malcoms."

"Es tut weh, das verstehe ich. Aber, wenn wir das Problem lösen wollen, brauchen wir auch ihn. Wenn du sagst, es sei bisher nur bei mir halbwegs erträglich gewesen, dann sollte man auch mit schwierigeren Fällen üben. Aber keine Sorge, nicht zu oft. Nicht dass du wieder jegliche Kontrolle verlierst, wegen zu großer Erschöpfung. Wir bekommen das hin!" Sie setzt sich vor mich auf einen Stuhl.

"Wo sind wir eigentlich?" Bisher hatte ich nicht Aufmerksamkeit auf meine Umgebung legen können. Ich war zu abgelenkt von Gabriel. Aber jetzt, nachdem ich mich umsehen konnte, weiß ich trotzdem noch nicht, wo ich bin.

Nelli lacht. "Schuldig. Ich habe dir noch nicht das ganze Haus gezeigt. Das liegt daran, dass dieser Raum noch keine Bedeutung hat. Hier ist noch nichts. Wir müssen ihn noch ausbauen."

Es sieht tatsächlich unfertig aus. Außer ein paar Stühlen und einem Tisch ist der Raum leer, was so gar nicht zum Rest des Hauses passt.

"Okay genug drumherum geredet. Was hast du geträumt. Ich muss es wissen!" Neugierig rutscht sie noch etwas näher mit ihrem Stuhl an mich heran. "Jedes Detail!"

"Ist ja gut. Ich beschreibe alles, was ich gesehen habe."

Ich schließe kurz die Augen, um meinen Traum Revue passieren zu lassen, dann beginne ich zu erzählen. Von dem Weg, den ich aus den anderen Träumen noch nicht kannte. Von dem seltsamen Haus, den Steinmauern, dem Arbeitszimmer, oder was auch immer das war. Und schließlich von den Fläschchen in dem Beutel, die ich leider nicht zu Gesicht bekommen habe.

"Und du hast keine Ahnung, durch wen du gesehen hast?", fragt Nelli, nachdem sie alles auf sich wirken lassen hat.

"Ich habe vermutet, dass es wieder Ludwig war, weil es das letzte Mal so gewesen ist. Aber nein, eigentlich habe ich keinen Schimmer."

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt