Kapitel 36

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Und wieder fühle ich mit ihm. Wie teilen eine beinah identische Geschichte – den Verlust unserer Familie.

Damals, als ich die Leichen im Flur nur gesehen hatte, ist kein Vergleich zu dem, was ich gerade lesen musste. Ich kenne das Gefühl dabei zusehen zu müssen, wie die Liebsten Menschen durch die eigene Hand sterben.

Ich muss mehrere Pausen machen, um nicht zusammenzubrechen. Zu sehr erinnert mich all das an meinen Bruder – an mich in der Küche. Ich spüre sein Leid, es liegt zwischen den Zeilen, in der Luft, tief verankert in seinem Tagebuch.

Ich klappe das Buch zu und lege es auf den Nachttisch. Mehr schaffe ich heute nicht mehr. Erstmal muss ich alles verarbeiten. Es ruft Erinnerungen hervor, die ich vergessen wollte. Zumindest die Bilder.

Aber nicht nur die Momente in der Küche, oder im Keller, auch die des Unfalls erscheinen wieder – halten mich vom Schlafen ab. Im Krankenhaus, als ich erfuhr, dass wir unsere Eltern verloren haben, dachte ich, dass wäre der schlimmste Tag meines Lebens. Wie hätte ich auch erahnen können, was mich da noch erwartete. Wer denkt schon, dass er von heute auf morgen zur Mörderin wird und dann noch zu der meines Bruders.

Niemals hätte ich jemandem geglaubt, wenn er mir das vorher erzählt hätte. Warum auch? Ich drehe mich auf die andere Seite, versuche den Gedankennebel zu lichten. Ich brauche den Schlaf, muss ausgeruht sein für weitere Übungen.

Völlig fertig werde ich am nächsten Tag von meinem Wecker geweckt. Ich habe kaum geschlafen, zu präsent waren die Gedanken, welche mich schon in der Küche geplagt hatten. Die Frage der Schuld, die ich mir nicht beantworten will.

Ich mache mich fertig und warte auf Nelli. Es ertönt das Klopfzeichen und die Tür wird geöffnet. Aber nicht ihr blonder Schopf erscheint, sondern Gabriel, mit seinen dunklen Locken.

Die Stimme überfällt mich mit einem gewaltigen Schwall. Nur schwer kann ich mich davon abhalten auf ihn loszugehen. Schnell halte ich ihm meine Handgelenke hin, damit er sie zusammenbinden kann.

"Was machst du hier?" Die Anspannung ist deutlich in meiner Stimme zu hören. "Hast du eine Ahnung, wie gefährlich das ist. Auch wenn das letzte Training gut verlaufen ist, rechtfertigt das noch lange nicht das hier."

Langsam versuche ich meinen Herzschlag wieder zu normalisieren. Eigentlich liebe ich Überraschungen, aber das war einmal. Jetzt hätte ich gerne keine mehr, zu groß ist die Gefahr, dass etwas schief geht.

"Nelli ist ganz in der Nähe." Er streicht mir sanft die Haare aus dem Gesicht. "Wir wissen, was wir tun. Außerdem habe ich keine Angst." Er sieht mir in die Augen, versucht etwas zu finden, dass vermutlich nicht mehr da ist – Zuversicht, Hoffnung, der Glaube an uns – ich weiß es nicht.

"Solltest du aber." Ich gehe an ihm vorbei. Im Flur steht Nelli, die mir einen vernichtenden Blick zuwirft. Sie ist gegen meinen Plan Gabriel weiter auf Abstand zu halten. Dabei ist es der einzig Richtige Weg ihn zu schützen. Je weiter er entfernt ist, desto sicherer ist er vor mir. Traurig, aber dennoch Realität.

Doch Gabriel ist hartnäckig. Anstatt sich in sein Zimmer zu verkriechen, folgt er uns erhobenen Hauptes in die Küche und setzt sich zu uns, versucht mehrmals sich ins Gespräch einzufügen, trotz dessen, dass es nur alberner Tratsch ist, den Nelli mal wieder vom Allmächtigen persönlich erfahren hat. Wie sie es auch immer macht, aber sie erzählt alles, als wäre sie höchstpersönlich dabei gewesen.

Da heute kein Training ansteht, verkrieche ich mich nach dem Frühstück zusammen mit Nelli in ihr Zimmer, um Schulzeug nachzuholen. Mit einem entschuldigenden Lächeln, schlägt Nelli Gabriel die Tür vor der Nase zu, nur um dann mich wieder, unter ihrem vernichtenden Blick leiden zu lassen.

"Ist ja gut, es tut mir leid. Aber ich stehe zu meiner Entscheidung." Ich stelle einen zweiten Stuhl an ihren Schreibtisch.

"Gut, und ich bin deswegen sauer auf dich. Dagegen kannst du überhaupt nichts machen. Du musst ja auch nicht sein herzzerreißendes Geheule ertragen. Aber ich warte ja nur darauf, dass du einsiehst, dass dein Plan sowieso nicht aufgeht."

Ich ignoriere das aufkeimende schlechte Gewissen und widme mich, gespielt ungerührt meinem Deutschhefter.

"Irgendwann kannst du es nicht mehr ignorieren", zischt Nelli, setzt sich aber zu mir und widmet sich ebenfalls ihrem Schulzeug.

Leider ist Abschalten überhaupt nicht mein Ding, weshalb ich schon nach einer halben Stunde den Hefter bei Seite lege und zum See laufe, um dort meinen Gedanken zu entkommen. Später will ich Nelli vom Tagebuch erzählen, aber jetzt muss ich erstmal selbst sehen, wie ich damit umgehen möchte.

Geweint habe ich noch nicht, was mich überrascht, da ich Tränen sonst nie zurückhalten konnte. Aber jetzt kommt nichts – egal wie sehr ich es auch will.

Ich folge meiner bewährten Routine, schwimme ein paar Bahnen und lasse mich dann unter Wasser gleiten.

Und auch heute umgibt mich die Stille, wie ein sanftes Tuch, ein Pflaster, dass sich über meine Wunden legt und mir Hoffnung schenkt. Wieder lasse ich mich ungehindert sinken, tauche immer tiefer in das Gefühl der Schwerelosigkeit ein. Erst als mein Brustkorb zu platzen droht, tauche ich auf, fülle meine Lungen mit Luft – lebe.

Und dann passiert es. Tränen rollen mir die Wangen hinab, befreien mich, lassen mich fühlen. Ich lasse mich auf dem Wasser treiben, lasse die Tränen laufen, bin einfach da und tanke Kraft, die ich vermutlich noch brauchen werde.

Als ich aus dem Wasser komme, sehe ich Gabriel bei meinem Handtuch stehen. Ohne weiter darüber nachzudenken falle ich ihm um den Hals. Sein Duft umhüllt mich, erinnert mich an bessere Tage. Ich klammre mich an ihn und er hält mich, ohne ein Wort, er ist einfach da.

Dann realisiere ich, was ich da gerade mache. Ich stolpere ein paar Schritte zurück. Das ist zu gefährlich. Wo ist die Stimme? Gabriel schüttelt den Kopf, kommt auf mich zu, will den grausamen Abstand zwischen uns überwinden. Aber ich weiche zurück. Warum auch immer die Stimme gerade nicht da ist, kann sie doch jeden Moment wieder erscheinen, mich überwältigen.

"Wir sollten zurückgehen." Ich greife nach meinem Handtuch und gehe an ihm vorbei, zurück zur Hütte.

Wie erwartet, lässt die Stimme nicht lange auf sich warten und so verbrauche ich die eben gewonnene Kraft damit, sie in Zaum zu halten, damit Gabriel lebend ankommt. Hätte er wenigstens die blöden Fesseln mitgebracht.

Fast sehnsüchtig, lasse ich mir diese, sobald wir angekommen sind, anlegen und atme erleichtert auf.

Ohne ein weiteres Wort mit Gabriel zu wechseln, verschwinde ich wieder mit Nelli in ihrem Zimmer.

Dort rege ich mich über die Unverantwortlichkeit von ihm auf. "Er hat sich einer viel zu großen Gefahr ausgesetzt und mir damit zugemutet, im schlimmsten Fall, über einen weiteren Tod hinwegkommen zu müssen."

"Du hast recht, das war nicht richtig", stimmt mir Nelli zu. "Ich rede nachher nochmal mit ihm, aber bitte versuch auch seine Sicht der Dinge zu verstehen. Er ist verzweifelt Larissa und versucht dir ständig so nah wie nur irgend möglich zu sein. Bitte vergiss das nicht, er liebt dich."

"Ja, okay." Gebe ich nach. "Aber ich habe auch Angst. Schreckliche, jeden Tag. Vor der Stimme, vor mir. Wenn man das überhaupt trennen kann."

Wütend nimmt Nelli mein Gesicht in die Hand, sodass ich ihr in die Augen sehen muss. "Hör auf damit! Du bist nicht die Stimme! Da ist eine klare Grenze, die nicht nur ich sehen kann. Gabriel tut das auch. Und du musst das bitte auch noch." Sie seufzt. "Du bist nicht allein Larissa. Hier sind Menschen, die dich lieben, an dich glauben. Bitte gib nicht auf. Kämpfe, denn wir werden siegen, dafür lege ich meine Hand ins Feuer."

Die Tränen kommen ohne Vorwarnung. Zu Hauf laufen sie mir die Wange hinunter, gefolgt von einem Schluchzer. Nelli nimmt mich in den Arm.

"Danke", nuschle ich in ihre Halsbeuge. Wie so oft fehlen mir die Worte für mehr. Also bleibt es dabei.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt