Ludwig IX

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Karls Blick geht von mir zu seiner toten Mutter und zurück. Er ist alt genug, um die Situation zu begreifen, Elise noch nicht. Schnell zieht er die kleine hinter sich, will sie beschützen - ganz der große Bruder. Angsterfüllt sieht er mich an, er hat das Blut gesehen. Ich will mich erklären, doch wie erklärt man das? Es geht nicht.

Bring sie um, beide! Die Stimme ist zurück, sie dröhnt in meinem Kopf und ehe ich mich versehe, laufe ich auf meine Kinder zu.

"Lauf!", schreit Karl seiner kleinen Schwester zu und sie tapst davon. Er selbst bleibt mutig stehen, will ihr Vorsprung verschafften. Eigentlich müsste er wissen, dass er keine Chance hat.

Töte sie! Es geht schnell, zu schnell, dass ich Karl erreiche. Er zieht ein kleines Messer aus seiner Hosentasche, mit dem er gerne schnitzt, und versucht sich so zu wehren.

Tatsächlich schafft er es sogar mich damit am Arm zu erwischen. Aber den Schmerz spüre ich nicht einmal, die Stimme tut mehr weh, das Wissen was ich bereits getan habe, was ich tun werde, tut mehr weh - viel mehr.

Das Messer entwende ich mit Leichtigkeit. Dann schlitze ich ihm die Kehle auf. Er hält sich kurz die Wunde, dann sinkt er zu Boden - ist tot. Mein Sohn, auch ihn habe ich nun umgebracht.

Das Blut breitet sich rasch aus, umrahmt den kleinen Körper. Mein Sohn, mein toter Sohn. Ich will zusammenbrechen, sterben, doch die Stimme hat einen anderen Plan. Sie will mehr - Elise.

Kurz lausche ich in die Stille. Da höre ich ihre Tapsschrittchen. Meine eigene Tochter auf der Flucht vor mir - zurecht. Ich bewege mich in die Richtung, aus der ich die Schritte vermute - angetrieben von der immer lauter werdenden Stimme. Weit ist Elise nicht gekommen, mit ihren kurzen Beinchen hat sie es gerade Mal zwei Zimmer weiter geschafft.

Sie ist noch so klein, dass sie die Situation nicht wirklich begreift. Deshalb freut sie sich, als sie ihren Vater sieht. Ihren Vater, der ein Messer in der Hand hat, dass sie töten soll. Weil sie es nicht besser weiß, hielt sie das Weglaufen womöglich für ein Spiel. Wie ernst es ist und dass sowohl die Leiche ihres Bruders als auch die ihrer Mutter neben an liegen, weiß sie nicht. Sie vertraut mir - natürlich - ich bin ihr Vater, eigentlich ihr Beschützer. Sie kann nicht wissen, dass ich nicht gegen die Stimme ankomme. Dass die Stimme überhaupt existiert.

"Vater...", sagt meine Kleine und kommt auf mich zugelaufen. Das Messer trifft ihren Körper direkt ins Herz. Und so hört auch meine Tochter auf zu atmen.

Meine Familie ist tot - liegt verteilt im Haus. Ihr Blut färbt den Holzboden, ihre Seelen verlassen unser Heim. Ich habe alle umgebracht. Dabei habe ich sie geliebt, war so glücklich.

Wieso? Immer wieder stelle ich mir die Frage und begreife es doch nicht. Wie soll es weiter gehen? Wie soll ich mit dieser Schuld leben?

Ich verkrieche mich ins Schlafzimmer. Nicht ins Bett, wie könnte ich - jetzt, wo meine Frau nicht nachkommen wird. Nein, ich kaure mich in die Ecke, verkrieche mich. Warte auf meine Strafe, warte das ich aus diesem Albtraum erwache.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt