Kapitel 24

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Bäume rasen an mir vorbei. Ich drehe meinen Kopf. Neben mir ist Nelli am Steuer, ich wusste gar nicht, dass sie ihren Führerschein schon hat.

"Larissa, gut du bist wach."

Ich will mich auf sie stürzen, doch etwas hält meine Hände zusammen. Nelli hat mich gefesselt.

Diese Sicherheit lässt mich die Stimme verdrängen, sodass ich wieder überhand habe.

"Wohin fahren wir? Wie?" Verwirrt sehe ich auf die Straße, doch ich erkenne nicht wo wir sind.

"Ich habe keine Leichen gefunden. Ich war überall, in der Küche, im Keller. Larissa da war nichts." Sie richtet ihren Blick kurz auf mich, bevor sie sich wieder der Straße widmet. Sie hat die Leichen nicht gesehen, aber sie sind da, da bin ich mir sicher. Meine Erinnerungen sind echt. Ich habe ihre kalten Hände gehalten. Ich habe sie sterben sehen, da besteht kein Zweifel.

"Das verstehe ich nicht. Sie sind Tod."

Nelli schüttelt den Kopf. "Ich glaube dir. Es ist verrückt, doch ich fühle es, du sagst die Wahrheit. Ich habe das Tagebuch gefunden und mitgenommen. Es war doch in dieser Thalia Tüte richtig?"

"Ja, genau."

"Du musst darin lesen, dann wissen wir hoffentlich mehr."

Eben das Tagebuch. Auf dem Einband steht, soweit ich mich erinnere Tagebuch von Ludwig Winkler.

"Ich habe von ihm geträumt.", stammle ich.

"Was?" Nelli biegt in eine Seitenstraße ab. Immer noch weiß ich nicht, wo wir hinwollen.

"Larissa, was hast du geträumt?"

"Ich weiß nicht so genau. Ich war irgendwie in Ludwig drin, glaube ich. Und das Tagebuch handelt von einem Ludwig, das muss doch was bedeuten." Nelli nickt. "Definitiv, das hängt alles zusammen. So viel Zufall kann es nicht geben. Du musst dieses Buch unbedingt lesen, das steht fest."

Sie hat recht, die Neugier bringt mich eh bald um. Ich spüre, wie mich alles zu diesem Tagebuch zieht. Auch wenn es mir Angst macht, ich werde dem Ruf folgen und es lesen.

"Woher kannst du so gut Kämpfen?", fällt mir die Frage wieder ein, die ich mir stelle, seit sie mich das erste Mal umgehauen hat. Sie war stärker als die Stimme, das war nicht einmal Raik, obwohl der doppelt so breit ist, wie sie.

Nelli lacht. "Ehrlich Larissa, manchmal frage ich mich, ob du mir überhaupt zuhörst. Aber gut es sei dir verziehen, angesichts der vielen Informationen, mit denen ich dich täglich bombardiere. Ich habe, da wir gerade dabei sind, übrigens noch eine Menge, die sich angesammelt hat, weil du nicht da warst. Aber das ist gerade nicht so wichtig. Ich meine, das was dir da passiert ist ..."

"Nelli, verlier den Faden nicht. Beantworte meine Frage."

Sie beißt sich auf die Lippe. "Du hast recht, tut mir leid. Mein Vater war früher mal beim Militär. Jedenfalls wollte er, dass ich mich verteidigen kann und hat mir so einiges an Technik beigebracht, damit ich auch gegen eigentlich stärkere Gegner ankomme. Ich dachte eigentlich, dass du keiner davon wärst, aber da habe ich mich wohl getäuscht. Ich meine du warst echt unglaublich kräftig, sowas habe ich noch nie gespürt und mein Vater ist eigentlich super stark."

"Das bin nicht ich. Die Stärke, die du gefühlt hast, gehört der Stimme. Diese Energie, sie kommt und geht mit der Stimme. Die war übrigens sehr überrascht, dass du überhaupt eine Chance gegen sie hattest. Ich konnte ihre Verwirrung buchstäblich fühlen. Sie war sich so sicher, dass sie allmächtig ist und niemand auch nur die geringste Kraft für Widerstand besitzt."

Nelli reckt stolz ihr Kinn. "Ich wusste immer, dass ich außergewöhnlich bin." Ich lache, dass erste Mal mit ganzem Herzen, seit Raiks erstem Versuch. "Das bist du wirklich."

Sie löst eine Hand vom Lenkrad und legt sie auf meine gefesselten. "Ich bin voller Zuversicht, dass wir dir die mach unserem Ausflug abnehmen können und du dann niemanden umbringen wirst, da du diese elende Stimme besiegt hast."

Ihre Worte umgeben mich, wie eine schützende Hülle. Sie sind voller Wahrheit und Wärme, die die Kälte vertreiben, welche sich um mein Herz gelegt hatte. "Danke."

"Sehr gern." Sie sieht mich an. In ihrem Blick liegt so viel Stärke.

"Ich fühle es, dass es meine Aufgabe ist dir zu helfen. Und du weißt, dass ich sowas ernst nehme. Außerdem weißt du auch, dass ich immer alles rauskriege, jedes Geheimnis. Zusammen können wir auch dieses Lösen und dich befreien. Nebenbei üben wir deinen Widerstand."

Wir verweilen in dieser berührenden Atmosphäre eine Weile ohne ein einziges weiteres Wort. Das ist auch gar nicht nötig, ich fühle die Stärke, die uns umgibt. Sie ist ganz anders als die Energie der Stimme. Diese ist rein, so klar, so deutlich. Ich kann nicht anders, als Nelli jedes ihrer Worte zu glauben. Sie hat die Stimme als erste Bezwungen, es ist also möglich. Es muss.

"Wohin fahren wir? Willst du es mir jetzt verraten?, frage ich, als wir auf einen Feldweg einbiegen.

Nelli schmunzelt. "Das würde doch die ganze Überraschung verderben. Bitte, du weißt, dass ich Überraschungen hasse."

Sie seufzt. "Na gut. Ich weiß nicht, ob du es wusstest, aber reich zu sein hat so seine Vorteile."

"Ach was."

"Und unsere Schule ist eins davon. Es ist möglich Urlaub außerhalb der Ferien zu machen. Dann bekommt man die Aufgaben einfach per Mail, das ist super einfach. In unserem Alter sogar ohne Einwilligung der Eltern. Man zahlt ein paar Scheinchen mehr und fertig."

Als ich erkenne, dass sie keinen Witz macht, kann ich sie nur noch fassungslos anstarren.

"Okay, du wusstest es nicht. Ich habe eine Nachricht geschrieben, auch über dein Handy." Sie wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. "Ging nicht anders. Naja, jedenfalls habe ich uns erstmal abgemeldet und Geld überwiesen. Es wird uns also niemand vermissen in der Schule, zumindest von den Lehrern. Und wir bekommen unseren Unterrichtsstoff."

"Und wo machen wir Urlaub?"

"Wir haben ein Ferienhäuschen im Wald am Rande der nächsten Stadt. Mein Vater ist großer Natur Fan, der Ort wird dir sicher gefallen. Ich habe gefragt, ob wir dort Mädelsurlaub machen können und ihm ist es sowieso egal, also werden wir dort ein wenig abgeschottet deine Probleme in Ruhe lösen können."

"Wow", bringe ich nur hervor. Auch wenn ich eigentlich mittlerweile Teil dieser wohlhabenden Gesellschaft bin, bin ich immer wieder über die Möglichkeiten erstaunt. Ich kenne das nicht von Haus auf und ich werde mich wohl nie daran gewöhnen.

Um die Zeit, bis zur Hütte rumzubekommen, erzählt mir Nelli nun doch den Klatsch, den ich verpasst habe. Es ist eine gute Ablenkung und dank Nellis Art zu erzählen keinesfalls langweilig. Gebannt höre ich ihr zu, sehe die Situationen vor meinen Augen und es ist für diesen Moment so, als wäre ich dabei gewesen, als hätte ich nicht in der Schule gefehlt, weil ich im Bann der Stimme gefangen war und dann, weil ich um meinen Bruder getrauert habe. Für diese kurze Zeit, ist es als wäre alles normal und nichts von diesen schrecklichen Dingen passiert.

Wir fahren über einen Trampelpfad, tief in den Wald hinein, bis wir zu einer Hütte gelangen, die nicht so nobel aussieht, wie ich es erwartet hatte.

"Mein Vater steht auf naturgebundene Erlebnisse", erklärt Nelli.

"Mir gefällt es. Es sieht heimisch aus."

"Das ist es." Nelli hält wenige Meter vor der Hütte, die nun unser Heim auf unbestimmte Zeit sein wird.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt