Kapitel 23

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"Du hilfst mir?" Eine Träne läuft mir die Wange hinab. "Ich dachte, du hasst mich jetzt."

Überwältigt von ihren Worten folgen weitere Tränen. Niemals hätte ich gedacht, dass sie zu mir stehen würde, nachdem ich ihr alles erzählt hatte. Ich habe mit allen möglichen Reaktionen gerechnet, nur nicht mit dieser.

"Du bist meine beste Freundin, natürlich hasse ich dich jetzt nicht." Sie schenkt mir ein beruhigendes Lächeln.

"Lass mich nicht los, okay? Ich werde sonst wieder auf dich losgehen." Sie nickt. "Seit wann ist das so? Ich meine seit wann hörst du diese Stimme?"

Bilder von Raik durchfluten meinen Kopf. Sollte ich wirklich alles erzählen? Bin ich bereit ihr von Raik zu erzählen? Er hat mir das angetan, mit ihm hat es angefangen. Aber dann ist da noch dieses Tagebuch, dass scheinbar nach mir zu rufen scheint, als wären wir verbunden. Die seltsamen Träume, die sich immer wieder in dem mir fremden Haus abspielen.

"Ich bin mir nicht sicher", stammle ich. "Raik hat sich eklig mir gegenüber benommen, da bin ich vor ihm weggerannt. Ich wollte mich in der Vorratskammer verstecken, doch nach dem ersten Mal hatte er den Schlüssel entfernt ..."

Ich erzähle Nelli große Teile der Wahrheit. Unschöne Details lasse ich aus, darunter Raiks Berührungen, seine widerwärtigen Gedanken und den schrecklichen Spitznamen.

"Ich wollte nicht, aber die Stimme war lauter und da habe ich sein Leben beendet, so wie sie es wollte. Und trotz der schlimmen Dinge muss ich immer wieder an das Tagebuch denken. Es ist so dumm eigentlich, ich verachte mich ja selbst dafür." Beschämt sehe ich zur Seite. Das alles auszusprechen ist wie es erneut zu durchleben. Ein Albtraum.

"Was für ein Tagebuch?" Verwirrt sehe ich zu Nelli. Das interessiert sie? Ich erzähle ihr die schlimmsten Dinge, die ich mir vorstellen kann und sie interessiert das?

"Keine Ahnung, das habe ich gefunden, als ... in der Vorratskammer, bevor die Stimmen das erste Mal aufgetreten sind. Ich muss ständig daran denken, will darin lesen." Nelli sieht mich abwartend an. "Ich habe es unter einem der Regale in der Vorratskammer gefunden. Da habe ich mich vor Raik versteckt. Danach traten die Stimmen auf und ich muss immer daran denken. Es ist als würde mich irgendwas zu ihm ziehen. Da ist eine Verbundenheit, ich kann es nicht erklären. Es fällt mir erst jetzt richtig auf, aber es hat eine Bedeutung, da bin ich mir sicher. Das Gefühl ist so stark, es muss sein."

"Ich habe dir versprochen zu helfen und das werde ich. Wo ist das Tagebuch?"

"Ich habe es oben unter meiner Couch versteckt."

Sie nickt. "Wir werden es holen und dann von hier verschwinden. Ich kenne einen Ort, wo wir hinkönnen. Wir besiegen die Stimme."

In ihren Worten liegt so viel Zuversicht, dass ich ihr so gerne glauben will.

"Nelli, ich kann nicht."

"Was? Warum? Larissa, du musst mir glauben, wir können das schaffen!"

Ich schüttle den Kopf. "Ich werde meinen Bruder nicht verlassen." Ihre Augen werden dunkel. "Ich weiß, dass es schwer ist. Aber Luis ist Tod. Larissa, du musst hier weg. Es ist sein Körper, der hierbleibt, aber seine Seele wird dir folgen."

"Okay, aber lass mich los." Höre ich mich sagen. Die Stimme hat die überhand zurückgewonnen. Ich kann nichts dagegen tun.

"Sicher?" 

Ich nicke.

Nelli lockert ihren Griff um meine Handgelenke und geht von mir herunter. Ich stehe langsam auf, spüre, wie die Energie mich durchfließt. Dann springe ich erneut auf meine Freundin. Schlage in ihre Richtung, will sie zur Strecke bringen. Doch wieder unterschätzt die Stimme Nellis Kraft. Mit einem geschickten Schlag auf meine Halsbeuge gehe ich zu Boden.

"Na komm, echte Männer kennen keinen Schmerz nicht." Der kleine Junge auf meinem Schoss nickt tapfer. Er hält sich sein Knie.

Er kommt mir bekannt vor. Wir sind im Garten des altbekannten Hauses aus den anderen Träumen. Natürlich.

Ich küsse den Kleinen auf die Schläfe. "Schon besser?" Er nickt und steht vorsichtig auf. Ich helfe ihm dabei. Stütze ihn. Als er merkt, dass es gut funktioniert, läuft er ein wenig. Da auch das super funktioniert ist die Wunde schnell vergessen und er rennt ein paar Runden um mich herum. Ich lache. "Na geht doch. Willst du weiterspielen?"

"Ja!", quiekt er vergnügt und rennt davon.

Schnell springe ich auf und folge ihm. Dabei koste ich nicht meine volle Schnelligkeit aus und lasse ihm immer ein wenig Vorsprung. Ich bin viel schneller als du!

"Du kriegst mich ja eh nicht!" Schreit der Kleine mir entgegen. Er erinnert mich so stark an Luis, dass es wehtut.

"Na warte!" Rufe ich zurück und beschleunige meine Schritte. Ich renne jetzt nur noch eine Beinlänge entfernt hinter ihm. Er quiekt und schlägt hacken, um mich abzuhängen. Doch mit seinen kurzen Beinchen hat er keine Chance. Schnell habe ich ihn ein und reiße ihn mit mir zu Boden. "Habe ich dich Frechdachs." Er windet sich in meinen Armen, doch ich halte ihn gefangen, drücke ihn an mich. Es ist so schön, so friedlich. Ganz anders, als die anderen Träume von diesem Ort. Kein Geschrei. Keine Leichen. Nur Frieden, überall Frieden.

"Vater, Vater, lass mich los. Quiekt der Junge."

Vater?

"Ist ja gut Karl." Sage ich und lockere meinen Griff, sodass er entwischen kann.

Wie? Ich kenne den Jungen nicht, trotzdem habe ich gerade seinen Namen ausgesprochen, wie selbstverständlich. Er nannte mich Vater.

Ich stehe auf, um ihm wieder nachzujagen, doch eine Stimme hält mich ab.

"Ludwig. Karl. Mittagessen." Mein Blick schnellt zur Besitzerin dieser wunderschönen klangvollen Stimme.

Sie ist atemberaubend schön, doch leider kenne ich sie. Es ist die Frau, dessen Leiche neben der Kommode im Flur gelegen hatte. Aber mir fällt noch etwas auf. Der Name, mit dem sie mich gerufen hat, er kommt mit bekannt vor. Irgendwo hatte ich ihn schonmal gehört, oder gelesen. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher.

Ich bin sprachlos, will wie angewurzelt stehen bleiben, doch ich rufe Karl zu mir und wir gehen zusammen ins Haus. Wir folgen dem Flur in die Küche, aus der uns ein herrlicher Duft entgegenströmt.

Es ist als würde mein Körper, wenn es denn meiner ist, wie von allein agieren. Aber ich höre keine Stimme, die ihn lenkt, wie die letzten Male. Es ist, als wäre ich nur der stille Beobachter.

Am Tisch warten bereits die schöne Frau und ein kleines Mädchen, dass gerade ein oder zwei Jahre alt sein müsste.

Eine kleine Familie. Was mach ich hier?

So selbstverständlich, wie sie sich hier bewegen muss das ihr Haus sein. Ludwig, also ich oder eben auch nicht, so genau weiß ich gerade nichts. Doch da der Körper, oder wer auch immer von alleine agiert, habe ich die Möglichkeit in Ruhe alles zu analysieren und nachzudenken. Der Mann, der im Schlafzimmer gekauert hatte, war das Ludwig? War ich das letzte Mal auch Beobachter aus Ludwigs Sicht, als ich die Frau erstickt hatte? Oder war ich da bei jemand anderem Spion. Und warum waren da so viele Leichen? Warum waren da diese Schreie? Und was hat das alles mit dem Mann im Schlafzimmer zu tun? Ist er der Mörder?

So viele Fragen, auf die ich keine Antwort finde. Ich verstehe einfach nicht, was ich hier soll. Warum dieses Haus?

"Larissa?"

"Wie?" Ich sehe auf. Doch die Küche und die hübsche Frau sind verschwunden.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt