Epilog

14 1 5
                                    

Mich überkommt ein Gefühl der Ruhe, wie ich es seit Wochen nicht mehr empfunden habe.

Es war nie vollends ruhig. Abgesehen von den Momenten unter Wasser, war da immer die Stimme, die, wenn auch nur leise, immer da war. Immer präsent.

Jetzt ist sie weg.

Meine Schultern erscheinen mir so leicht, als hätte man mir einen schweren Sandsack, den ich seit Ewigkeiten mit mir trage endlich abgenommen. Ich kann frei atmen, ohne die ganze Zeit auf der Hut zu sein – möglichen Gefahren aus dem Weg zu gehen, um jeden Angriff der Stimme zu verhindern.

Die letzten Wochen ist es so normal für mich geworden, dass ich wahrhaftige Stille gar nicht mehr kannte. Die Stimme hat sich viel zu sehr zu einem Teil von mir entwickelt, dass ich kaum noch zwischen ihr und mir zu unterscheiden gewagt habe.

Doch nun ist es mir gelungen, und das hat mich befreit. Der klare Schnitt, hat mir zurückgegeben, was ich vor Wochen verloren habe – mich selbst.

Ich sehe zum Tagebuch. Doch da ist kein Glitzern, keine Bewegung - gar nichts. Müsste nicht etwas passieren, wenn ich wirklich Frieden gefunden habe. Ich fühle mich so frei, doch bin ich es? Reicht es, um die anderen Seelen zu befreien?

Ein Wind kommt auf und ich blicke hoch.

Da ist es. Das Glitzern. Es kommt über den See, schwebt über die Baumkronen hinweg und streift schließlich das Tagebuch. Von dort wandert es weiter bis zur gegenüberliegenden Seite der Lichtung und dann sehe ich sie.

Ludwig, seine Familie, die Heibels, all die Opfer des Fluches.

Ludwig bewegt sich aus der Masse heraus, schwebt über den See, hinüber zu mir. Ich blinzle mehrere Male, doch es ist real. Ich träume nicht.

Ludwig nickt mir zum Gruße. Ich tu es ihm gleich. Es ist immer wieder seltsam ihn vor mir zu sehen, stammt er doch eigentlich aus einer ganz anderen Zeit.

"Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet." Er spricht ruhig und sanft. Eben das strahlen auch seine Augen aus: Ruhe.

"Meine Familie, meine Freunde und ich, wir waren so viele hundert Jahre gefangen im Leid. Nun können wir dank dir endlich zur Ruhe kommen und Frieden finden. Nichts Geringeres wünsche ich auch dir."

Ich bin so überwältigt, dass ich kein Wort herausbekomme. Also nicke ich nur, dankbar für seine lieben Worte. Er schenkt mir ein Lächeln, dann dreht er sich um und geht zurück zu seiner Familie, legt den Arm um seine Frau.

Die Winklers zusammen ergeben ein Bild, dass sich richtiger nicht anfühlen kann. Nun können sie in Frieden zusammen sein.

"Lissa!"

Ich möchte vor Glück losschreien, als ich seine Stimme höre. Luis kommt auf mich zu gerannt, fällt mir in den Arm. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, ihn nochmal in meine Arme zu schließen und doch ist er hier.

Durchströmt von Glück drücke ich meinen kleinen Bruder fest an mich – will ich nie wieder loslassen. Ich schluchze gegen seine Schulter, küsse ihn wie eine Verrückte zig Mal auf die Stirn.

"Es tut mir so dolle leid. Ich liebe dich so, so sehr!"

"Es ist nicht deine Schuld, das hast du doch nun erkannt. Du hast uns doch alle gerettet. Es war so schrecklich dort, aber jetzt wird alles besser. Wir werden aufsteigen." Er grinst mich an - so voller zuversicht - gibt mir einen Kuss auf die Stirn, dann sieht er zurück zu den anderen.

"Ich habe dich ganz doll lieb Lissa. Du warst die beste Schwester, die ich mir hätte wünschen können. Ich muss jetzt zurück." Er zeigt hinter sich. Ich nicke schluchzend.

"Okay Zwerg. Mach's gut." Ich drücke ihn ein letztes Mal fest an mich, dann lasse ich ihn gehen. Er rennt zurück zu den anderen Seelen.

Dort wartet Maria auf ihn. Sie nimmt ihn an die Hand, begrüßt ihn kurz. Dann sieht sie auf zu mir. Sie grinst mir zu und nickt kurz. Ich erwidere ihre Geste, verspüre dabei eine vertraute Wärme. Sie war so gut. Jetzt passt sie weiter auf Luis auf. Er ist in guten Händen.

Da stehen sie, alle Opfer beisammen. Es sind so viele, denen die Stimme Leid zugefügt hat. Nelli, Gabriel und ich sind die einzigen Überlebenden.

Aber nun ist es vorbei. Das Leid hat ein Ende, jetzt ist Zeit für Frieden.

Plötzlich wird es ganz ruhig. Alle sehen zu mir. Strahlen mir fröhlich entgegen. Manche winken mir, wie zum Abschied zu.

Voll Glück erfüllt winke ich zurück.

Und dann kommt da wieder der glitzernde Staub. Von allen Seiten strömt er herbei auf die Gruppe zu.

Einer nach dem anderen wird umhüllt von Glitzer, bis sie schließlich gemeinsam aufsteigen.

Sie sind überall. Über dem See, über den Baumkronen, über der Lichtung. Lauter glitzernde Staubkörnchen, die dem Himmel immer näherkommen.

Ich sehe ihnen nach, winke, lasse sie ziehen. Sie alle können nun endlich Frieden finden. Sie alle sind nun befreit von Qual.

Luis, aber auch Maria, beide werde ich für immer vermissen. Ihr Tod hat mir so viel genommen. Doch der Gedanke, dass sie nun im Glück schweben können, erleichtert mich. Sie sind zufrieden, sie sind beisammen. Luis ist nicht allein und das bedeutet mir unendlich viel. Es ummantelt mein Herz mit Wärme.

Madame Espoir hat es gesagt: Es wird mein letzter Kampf. Und genau so fühlt es sich an. Mein Leben endet nicht, doch kein Leid wird mich jemals so erschüttern können, wie das der letzten Wochen. Alles was jetzt noch folgt ist Frieden und pures Glück.

Nelli und Gabriel, sie beide haben mich auf diesem schweren Weg begleitet und werden es wohl auch noch für den Rest meines Lebens, dem ich nun, voll von neuem Lebensmut, entgegenblicken kann.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt