Kapitel 28

8 3 0
                                    

"Bist du bereit?" Nelli steht mir im Trainingsraum gegenüber. Nach der gestrigen Pause schaffe ich es heute ohne Probleme mich zu beherrschen, oder besser gesagt die Stimme zu beherrschen.

"Bereit."

"Du bist eine Mörderin, die nicht einmal vor ihrer eigenen Familie zurückgeschreckt ist. Dein Bruder war erst fünf und du hast ihm das Leben geraubt."

Es ist als würde mein Körper keine Sekunde zögern. Er bewegt sich direkt auf Nelli zu, mit nur einer Intention: Sie umzubringen, genauso wie er es mit Luis und den Malcoms gemacht hat.

Jedes Mal frage ich mich wieder, ob die Stimme nicht merkt, dass sie keine Chance gegen Nelli hat, vor allem, wenn diese den Angriff schon erahnt. Doch ich stürze mich immer wieder auf meine Freundin, sobald sie meine schlimmsten Gedanken ausspricht.

Die Wut und die Trauer sind zwei so starke Emotionen, die sich viel zu schnell ausbreiten, bevor ich überhaupt reagieren kann. Dadurch, dass die Übungen in letzter Zeit, wegen fehlender Kraft auch eher sinnlos waren, fange ich gefühlt wieder bei null an, was mich sehr frustriert.

Nelli dagegen scheint zufrieden zu sein, dass die Pause etwas genützt hat und ich sie erst angreife, nachdem sie mich beschimpft hat.

Anders als bei unserem ersten Trainingsanlauf, halten wir die Anzahl an Versuchen gering. Stattdessen verbringe ich mehr Zeit mit dem Boxsack, an dem ich meinen Frust auslasse.

Eigentlich wusste ich, dass es ein Prozess ist, der vermutlich länger dauern wird, gleichzeitig will ich, dass es einfach vorbei ist. Aber die Erlösung wird wohl noch auf sich warten lassen.

In der Mittagspause beginne ich mit dem zweiten Band der Trilogie und schließe es nur ungern, um etwas für die Schule zu machen. Aber Nelli hat recht, wenn ich will, dass irgendwann alles wieder halbwegs normal wird, muss ich auch in der Schule wieder Leistung erbringen. Ich will schließlich nicht sitzen bleiben.

Tatsächlich schaffe ich ordentlich was, da ich durch das abgeschwächte Training noch genug Kraft habe die Stimmen zu ignorieren, obwohl ich allein bin.

Nelli sehe ich erst zum Abendessen wieder. Auch sie hat nach dem Mittag Schularbeiten erledigt und scheint sehr zufrieden mit sich zu sein.

"Wir mussten komplett bei null heute anfangen. Glaubst du wirklich, dass das hier was bringt. Was wenn wir nur Zeit verschwenden."

Nelli schüttelt entschieden den Kopf. "Nein, selbst wenn wir zu keinem Ergebnis kommen, würde ich das hier niemals als verschwendete Zeit bezeichnen. Wir probieren meinen neuen Plan, dann werden wir schon sehen, ob er etwas bringt."

"Was ist, wenn ich mich stelle", murmle ich. Nelli blickt erschrocken von ihrem Essen auf. "Nein, das wirst du nicht tun!" Ihre Augen verengen sich. "Larissa ich mache das hier nicht nur für dich. Natürlich möchte ich vordergründig dir helfen, aber es geht hier auch um mich. Ich will meine Freundin nicht verlieren. Wir kennen uns noch nicht so lange, aber ich würde ohne dich nicht mehr klarkommen." Eine Träne verlässt ihr Auge.

"Es tut mir leid." Ich hatte mich nur auf mich fokussiert und dabei völlig vergessen, dass Nelli auch ihre Freundin verlieren würde, wenn das hier nicht klappt.

"Ich möchte so etwas nie wieder von dir hören."

Ich nicke. "Versprochen."

Wir sitzen eine Weile still da. Nelli wischt sich ihre Wangen trocken. Ich starre schuldbewusst mein Essen an.

"Hast du gestern noch gelesen?"

Na klar, das hatte ich vollkommen vergessen. "Ja und ich glaube du hast recht."

"Das habe ich immer, aber womit genau dieses Mal?" Sie grinst.

"Mit der Frau vom Markt."

Ihr Gesicht erhellt sich.

"Sie heißt Luciana. Es gibt einen minimalen Zeitsprung, von ein paar Tagen denke ich, dann geht es in dem Tagebuch weiter. Und wieder handelt der größte Teil davon, diese Frau erneut auf dem Markt zu treffen. Und dann geht er nach Hause und erzählt dort seine Frau davon. Du musst also recht haben, irgendwas hat das ganze mit ihr auf sich. Sie muss eine tragende Rolle spielen!"

Nelli schüttelt den Kopf. "Ich wusste es. Verdammt ich weiß es immer."

"Wirklich immer, das ist beneidenswert. Ich lese heute Abend auf jeden Fall weiter." Nelli stimmt mir zu und erinnert mich schon einmal jetzt daran, dass sie morgen wieder jedes Detail wissen möchte.

Dann beginnt ihr Part: mich abzulenken. Oder besser gesagt uns beide. Sie erzählt mir alles Mögliche, was gerade so in der Schule los ist. Woher sie die ganzen Informationen hat verrät sie mir natürlich nicht.

Es tut so gut, zu tun als sei alles normal, als würden wir jeden Tag einfach in die Schule gehen. Mittags an unserem Stammtisch sitzen, Nelli erzählt den neusten Gossip, während ich sie bestaune, weil sie mal wieder viel zu viel weiß. Ich vermisse es. Ich vermisse alles davon. Eben, wie mein Leben, bevor die Stimme es zerstört hat.

Ich fühle tiefe Trauer, aber ich möchte nicht weinen, denn der Moment ist gleichzeitig so schön, dass er mich mit wärme umringt. Ein bekanntes Gefühl, dass Sicherheit verheißt.

Wir beide genießen den uns so normal erscheinenden Moment, bis Nelli dann die Küche aufräumt und wir schließlich auf unsere Zimmer gehen.

Dort reibe ich mir die Handgelenke. Ich begrüße zwar die Fesseln zum Schutz, bequem sind sie deswegen leider noch lange nicht. Daher freue ich mich auch jeden Tag, sie abends abgenommen zu bekommen.

Ich gehe ins Bad um mich bettfertig zu machen. Als ich wieder mein Zimmer betrete, fällt mir auf, wie unordentlich ich die letzten Tage gewesen bin. Abgelenkt und gequält von den Stimmen, sowie von der Stimme selbst, hatte ich keine Kraft mehr für Ordnung gehabt.

Aber jetzt, wo es mir wieder besser geht, stört mich das Chaos. Also beginne ich ein wenig aufzuräumen. Müde bin ich ohnehin noch nicht.

Ich sortiere mein Schulzeug, dass Nelli damals notdürftig zusammengepackt hatte, ohne jedes System.

Mit dem nun organisierten Schreibtisch wird es sich besser arbeiten. Danach räume ich endlich meine Klamotten in die Kommode ein. Auch dazu war ich noch nicht gekommen.

Bisher hatte ich aus der Reisetasche gelebt. Erst jetzt, wo ich sie komplett ausräume finde ich das Foto von Luis und mir – mein Lieblingsbild von uns beiden, dass auf meinem Nachttisch gestanden hatte. Nelli muss es als erstes eingepackt haben.

Mit dem Finger streiche ich Luis Wangen entlang – mein Zwerg. Das Bild findet auch hier seinen Platz direkt neben meinem Bett.

Eine halbe Stunde später stehe ich mit meinem Handy in der Hand in der Mitte des Raumes und betrachte zufrieden mein Werk. Aufräumen, sortieren, ordnen, all das war schon immer meine Stärke. Es ist für mich wie meditieren. Das positive Nebenprodukt ist am Ende ein Umfeld, in dem man sich wohl fühlt und so ist es auch jetzt. Der Raum ist nun zumindest mehr mein Zimmer, als noch wenige Minuten zuvor.

Mein Handy stecke ich ans Ladekabel. Es hatte bereits wenig Akku, als wir hier angekommen sind. Dann hatte Gabriel mich mit Nachrichten überflutet, weshalb ich es einfach in der Ecke liegen gelassen hatte, bis es ausging.

Doch es war Zeit die Dinge klarzustellen, zu beenden und zwar ganz offiziell, nicht wieder über Nelli.

Schließlich finde ich den Weg ins Bett und kuschle mich unter die Decke. Aber es ist noch keine Zeit zu schlafen. Ich muss noch lesen. Also greife ich neben mich und mache es mir mit dem Buch bequem.

Ich öffne es, genieße den Duft des alten Papiers und blättere bis zur Stelle vor, an der ich das letzte Mal aufgehört hatte. Alles mit der Hoffnung dieses Mal mehr zu erfahren.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt