Kapitel 39

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Er musste sterben.

Es endete erst mit seinem Tod. Da war keine Lösung, da war nur der Freitod. Kein Entkommen vor der Stimme. Sein Leben für das Überleben seiner Mitmenschen.

Das, wovor ich solche Panik gehabt hatte, hat sich bestätigt. Ich werde keinen Tag mehr ohne sie Leben. Es gibt nur uns beide, oder keinen. Ludwig hat sich entschieden, nun ist es an mir.

Mit jeder Sekunde leuchtet mir seine Entscheidung mehr ein. Wen hatte er denn noch. Er war allein, gefolgt vom Leid. Alles wofür es sich zu kämpfen gelohnt hätte, hatte er zunichte gemacht – ermordet. Lohnt es sich denn bei mir?

Anders, als er habe ich noch zwei Personen, welche mich stützen – die mir etwas bedeuten. Doch sollte ich nicht gerade deshalb seinem Beispiel folgen. Wenn es keinen Ausweg gibt wo sollen wir hin? Auch wenn die beiden mich unterstützen wollen, ewig können sie nicht hierbleiben. Und selbst wenn alles glatt läuft und ich keinen der beiden körperlich verletze, raube ich ihnen dennoch ihr Leben. Ganz allein hier draußen, ohne Familie und Freunde. Welchen Preis hat mein Leben dagegen - im Vergleich gehe ich unter.

Wie ferngesteuert krieche ich aus dem Bett, verlasse mein Zimmer Nelli hat vergessen abzuschließen. Warum werden hier alle viel zu leichtsinnig? Wie versteinert bleibe ich im Türrahmen stehen, mache kehrt und schnappe mir Papier und Stift vom Schreibtisch, hinterlasse Nelli eine Nachricht – was ich gelesen habe wohin ich gehe. Dann setze ich meinen Weg fort und verlasse die Hütte.

Anders als sonst, wenn ich hier zum Entspannen hinkomme, habe ich weder Handtuch noch Badesachen dabei. Stattdessen trage ich mein Nachthemd. Ohne Halt zu machen, laufe ich geradewegs ins viel zu kalte Wasser. Gänsehaut breitet sich über meinen gesamten Körper aus, aber ich lasse mich nicht beirren und gehe weiter hinein.

Dieses Mal schwimme ich auch keine Runden. Ich tauche direkt unter. Die Stille zieht mich immer tiefer. Ich lasse mich von ihr mitreißen, mache keine Anstalten, mich dagegen zu wehren.

Sie tut nur das, was ich erhofft habe. Sie beendet nur das, was sowieso keine Zukunft besitzt. Sie übernimmt nur die Rolle der Gefängniswärter, die es bei Ludwig zu Ende brachten.

Als mir die Augen schon Müde werden und mir fast jegliche Kraft aus dem Körper gewichen ist, höre ich sie.

"Larissa? Wo bist du?" Es ist Nellis Stimme, die leicht verzerrt zu mir dringt. Es ist ihre Stimme, die durch die Stille ihren Weg zu mir findet. Es ist Nelli, die mich davon abhält mich weiter sinken zu lassen.

Keuchend schnappe ich, wieder an der Oberfläche, nach Luft, schleppe mich ans Ufer, nur um dort zusammenzuklappen.

Als ich zu mir komme und nach oben sehe, kann ich eine Person, die auf mich zukommt ausmachen.

Langsam rapple ich mich auf, um ihr entgegen zu kommen. Doch als ich sie erkenne bleibe ich abrupt stehen.

Es ist Ludwig.

Verwirrt sehe ich mich um, muss dabei jedoch feststellen, dass sich hinter mir nicht, wie eigentlich erwartet der See befindet, sondern nur reines, grelles Licht. Wie eine Mauer hat es sich hinter mir aufgebaut, an der Stelle, an der das Wasser beginnen müsste. Eben war es doch noch da. Ich drehe mich wieder zu Ludwig, der mich ebenso irritiert ansieht, wie ich mich fühle.

"Du stehst deutlich näher am Licht. Ihre Hand kann dich kaum streichen."

Welche Hand? Wovon spricht er?

Ludwig zuckt zusammen und auch mir gefriert das Blut, als ich die Ursache ausmache. Es muss die Hand sein, von der er geredet hat. Sie umfasst seine Schulter, packt dabei ordentlich zu – hält ihn ganz fest. Bald erkenne ich auch zu wem sie gehört.

Es ist Luciana, die hinter ihm erscheint. Aber anders als Ludwig scheint sie mich nicht zu sehen. Als wäre ich überhaupt nicht hier, sieht sie über mich hinweg, sucht nach der Person, zu der Ludwig gesprochen hat, aber wird nicht fündig.

Seltsam.

Trotz der Tatsache, dass ich Nellis Annahme - Luciana sei die Ursache des gesamten Problems - teile, bin ich doch eingenommen von ihrer Präsenz, sowie ihrer atemberaubenden Schönheit.

Engelsgleich, mit Haut, wie aus Porzellan, sieht sie mehr aus, wie aus einem Märchen entsprungen. Ihr starker Griff, der Ludwig eine solche Angst ins Gesicht treibt, spricht jedoch eine andere Sprache.

Was soll mir das hier sagen? In den anderen Träumen gab es wenigstens was zu erfassen was nehme ich aus diesem mit?

Es ist Gabriel, der mich aus dem Traum befreit. Seine Hände, die mir die Haare aus dem Gesicht streichen sind das erste Reale, dass ich wieder spüre.

Er ist hier, bei mir. Ich habe ihn zum unendlichsten Mal mit Füßen getreten und doch sitzt er hier, vor meinem Bett – hält Wache.
"Gabriel es ..." Er schüttelt den Kopf. "Jetzt nicht. Da reden wir ein anderes Mal drüber, wenn es dir besser geht." Er gibt mir einen sachten Kuss auf die Stirn und verlässt das Zimmer.

Wenige Minuten später tritt Nelli an seine Stelle, die deutlich übler gelaunt zu sein scheint. Verübeln kann ich es ihr nicht. Ich hatte ihr versprochen nicht aufzugeben und doch war es beinah dazu gekommen. Und beinah nur, da ihre Stimme zu mir gekommen war. Ohne sie, läge ich nun vermutlich am Grunde des Sees.

"Es tut ..."

"Nein. Nein! Du hast es mir versprochen. Du hast mir dein Wort gegeben. Wie kannst du mir das antun? Wie ...?" Ihre Stimme versagt. Tränen rennen ihr die Wange hinunter. In sich zusammengesackt sitzt sie vor mir. Nie zuvor habe ich Nelli ähnlich erlebt. Ich bin es, der sie so zugerichtet hat. Egoistisch habe ich aufs Neue selbst entschieden, anstatt der Gruppe, den Menschen die mich Tag für Tag unterstützen ein Mitspracherecht zu geben.

Ohne einen weiteren Versuch der Entschuldigung zu starten, rapple ich mich hoch und falle meiner Freundin um den Hals. Und so sitzen wir da, schluchzend Arm in Arm, halten wir uns gegenseitig.

"Er entkam der Stimme nur über den Tod." Ich löse mich von ihr.

"Ja, ich habe es gelesen. Er wurde Ende des achtzehnten Jahrhunderts als Massenmörder hingerichtet."

"Woher ...?" Ich hatte ihr zwar geschrieben, dass er geköpft wurde, doch die genauen Daten wusste ich nicht.

"Es steht im Internet. Nachdem wir deinen Zettel gefunden und dich hergeholt hatten, haben Gabriel und ich, während du geschlafen hast ein wenig recherchiert", erklärt sie.

"Im Bericht von damals wurden außerdem die Zustände der Leichen beschrieben, die zu deinen Erzählungen passen."

"Aber niemand außer uns kann die Leichen sehen. Du hast keine gefunden in der Küche, obwohl ich dir davon erzählt habe. Und bei Ludwig hatte auch nie jemand die Leichen gesehen."

Sie zuckt mit den Schultern. "Ich weiß nicht. Vielleicht, weil er damit vom Fluch erlöst wurde also mit seinem Geständnis."

"Ja, vielleicht." Ich seufze. "Es läuft alles immer wieder aufs Gleiche hinaus. Der Tod als die Lösung."

Abrupt schüttelt Nelli den Kopf. "Nicht unbedingt. Wir haben da noch etwas anderes gefunden, bei unserer Recherche und ich habe im Gefühl, dass wir damit die Stimme besiegen werden."

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