Kapitel 38

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Das Erste, was ich am nächsten Morgen erblicke ist Gabriels Gesicht. Wie ein Kind liegt er mit offenem Mund vor mir. Sein Atem kribbelt auf der Haut. Sein Geruch umhüllt mich, erinnert mich an letzte Nacht. An das Glück, dass ich gefunden habe. Es ist der perfekte Moment, den ich immer in Filmen gesehen hatte. Nur ist das Erste, das ich höre, nicht seine wunderbar tiefe Morgenstimme.

Es ist die Stimme, die still und heimlich in meinem Hinterkopf herumgeistert und nach Gabriels Tod schreit.

Ich reagiere sofort, rapple mich hoch, rüttle Gabriel wach. "Es ist besser, wenn du jetzt gehst." Ich klettere über ihn aus dem Bett.

"Wieso? Mir gefällt es hier", grummelt er verschlafen. Da ist sie, seine Morgenstimme. Es wäre alles perfekt gewesen, wenn da nicht die Stimme wäre, die mittlerweile immer lauter wird.

Wieder rüttle ich an seiner Schulter. "Ich meine das ernst Gabriel. Raus. Jetzt!"

Sichtlich irritiert setzt er sich auf. "Ist alles in Ordnung?"

"Raus!"

Beschwichtigend hebt er die Hände nach oben, greift nach seinen Sachen und verlässt das Zimmer. Mit ihm verschwindet die Stimme.

Das Gefühl bleibt, welches sie kurz nach ihrem erscheinen ausgelöst hat: Schuld. Bei all dem Glück habe ich meine Schuld aus den Augen verloren. Ich bin Mörderin meines Bruders, doch anstatt Reue zu zeigen vergnüge ich mich. Das ist falsch. Es ist nicht richtig hier glücklich zu sein, wo ich über die, mich zum Mord antreibende, Stimme versuche loszuwerden. Stattdessen setze ich Gabriel einer größeren Gefahr aus, als nötig. Es ist das eine, dass er hier ist. Aber es ist etwas anderes ihn ungeschützt bei mir schlafen zu lassen. Alles hätte schief gehen können. Er hätte durch meine Hand sterben können. Sein Leben hätte gestern enden können, nur durch meinen Leichtsinn. Das Glück habe ich nicht verdient, egal wie gern ich es hätte, er muss leben. Das hat Priorität.

Ich nehme eine kalte Dusche, um den Kopf möglichst klar zu bekommen. Danach holt mich Nelli. Sie weiß es. Ich erkenne es in ihrem Blick, an der gehobenen Braue, dem leuchten in ihren Augen, als wäre sie gestern an meiner Stelle gewesen. Eigentlich sollte ich derart blöd grinsen, verloren in meinen Gefühlen. Doch das ist nicht der Fall. Die Stimme hat mich an meinen Platz erinnert. An das, was ich wirklich in mir trage. Was ich getan habe und wozu ich fähig bin.

All das erstickt das Glück, dass gestern aufkeimen wollte.

"War es derartig schlecht, dass dein Blick angemessen ist? Das hat sich gestern aber anders angehört." Sie stößt mir den Ellenbogen in die Seite.

"Nein. Aber dafür falsch."

"Nein. Larissa, wirf den Fortschritt nicht gleich wieder weg." Sie wirft den Kopf in den Nacken. Sie hat ja keine Ahnung. Sie hört auch nicht die Stimme, hat niemanden umgebracht. War nicht einmal im Begriff dies zu tun.

"Es ist einfach zu riskant und mehr sage ich dazu nicht. Außerdem fasse ich es nicht, dass du uns belauscht hast."

"Ich bitte dich, das war nun wirklich nicht zu ..." Ihre Stimme erstickt, als sie meinen vernichtenden Blick sieht.

"Verstanden."

Während des Frühstücks bemerke ich immer wieder Gabriels Blick auf mir, der mich versucht zu ergründen. Als sich unsere Augen dann einmal treffen, kann ich seine Sehnsucht förmlich spüren, wie sie die Hand nach mir ausstreckt. Schnell breche ich den Kontakt ab und starre lieber auf meinen leeren Teller.

Nach dem Essen jedoch, hält er mich am Arm zurück, verhindert die Flucht zurück in mein Zimmer.

"Isa. Bitte." Ich richte mich etwas gerader auf, um die Wirkung seiner Worte zu überspielen. Eigentlich ergreifen sie mich, wie ein Sturm reißen mich mit sich, direkt zurück zu letzter Nacht. Aber das ist falsch – nicht sicher. Es war ein Fehler.

Als hätte ich ihn geschlagen weicht er einen Schritt zurück.

"Glaub mir, es ist besser. Es tut mir leid." Ich drehe mich um und verschwinde in mein Zimmer. Die Tür schlage ich hinter mir zu, nur um mich danach mit dem Rücken dagegen zu werfen und weinend zu Boden zu gehen. Es ist das Richtige ... das Richtige ... es ist das Richtige. Wiederhole ich immer und immer wieder. Aber es fühlt sich nicht danach an.

"Kann ich reinkommen?" Es ist Nelli, die durch die Tür lunzt. Ich schlage die Bettdecke zurück und verlasse vorsichtig meinen selbstgebauten Kokon.

"Nur, wenn du mir jetzt keinen Vortrag hältst und mich überreden willst meine Entscheidung zu überdenken." Sie schüttelt den Kopf und kommt rein. "Nein. Ich möchte nur für dich da sein. Egal, was du jetzt brauchst, oder worüber du reden möchtest." Sie setzt sich zu mir aufs Bett. Ich lasse mir die Hände binden, auch wenn es dank des regelmäßigen Trainings eigentlich nicht mehr nötig wäre, fühle ich mich in dieser emotionalen Stimmung damit doch noch ein wenig sicherer und kann besser abschalten.

Wir sagen eine ganze Weile nichts und Nelli ist einfach nur da, beruhigt mich, stützt mich. Irgendwann bitte ich sie dann mir von den neusten Entwicklungen in der Schule zu berichten, als Ablenkung. Nur zu gern folgt sie meiner Bitte und füllt die nächste Stunde mit Beziehungsstreitereien, neuen Haarfarben, Frisuren und Partygeschichten der letzten Woche.

Es hilft. Erneut helfen mir diese eigentlich belanglosen Stories von meinen Problemen, meinen Gefühlen abzulenken. Sie befreien.

"Ich habe länger nicht mehr gefragt, aber hast du schon weitergelesen? Wenn ja, wäre es schön, wenn du jetzt weitererzählst und meine Stimme eine kleine Pause bekommt." Sie grinst.

"Oh man, das habe ich bei all den anderen Entwicklungen der letzten Tage völlig vergessen. Ich habe weitergelesen, sogar recht viel." Also berichte ich Nelli meine neusten Erkenntnisse, sowie meine Gefühle darüber.

"Und weiter?" Irritiert sehe ich sie an.

"Wie und weiter?

"Das wars? Du hast an der Stelle aufgehört und nicht weitergelesen? Meinst du nicht, dass die Lösung nicht mehr all zu weit entfernt sein kann?" Sie zeigt auf meinen Nachttisch. Und tatsächlich, ist das Lesezeichen nur wenige Seiten vom Ende entfernt.

"Ich glaube, es ist Angst."

"Wie meinst du das?"

Ich schlucke leer. "Angst vor der Lösung. Was wenn sie schrecklich ist, oder gar keine existiert?"

"Blödsinn! Natürlich ist da eine und egal was es ist, wir werden es schaffen dich zu befreien." Sie seufzt. "Bitte, lies weiter."

Nelli hat recht – na klar. Meine Panik, Ludwigs Geschichte zu Ende zu lesen, besänftigt sie damit jedoch nicht. Immer noch frisst sie sich eiskalt durch mein Herz - lässt es gefrieren.

"Okay", flüstere ich beinah. Es führt kein Weg daran vorbei. Ich muss es beenden. Egal, wie Ludwigs Geschichte geendet hat, ich brauche dieses Wissen für mein eigenes. Das Ende meines Albtraums. Das Ende der Stimme und ihrer Herrschaft über meinen Körper.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt