Kapitel 42

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Mit dem Überqueren der Türschwelle betreten wir eine völlig neue Welt.

Nicht nur die äußere Erscheinung des Häuschens schreit nach Hexe, die Einrichtung tut es auch.

Alles scheint aus Holz zu sein. Etwas moosig und morsch.

Jede Oberfläche ist bedeck mit kleinen Steinchen, von unterschiedlichsten Farben und Formen. Dazwischen Figuren von Fabelwesen und anderen Gruselgestalten.

Ein starker Duft von Lavendel ummantelt mich – klärt meinen Geist. Neben Lavendel hängen auch andere getrocknete Pflanzen von der Decke herab. Gabriel und Nelli müssen sich immer wieder ducken, um nicht an tieferhängenden Pflanzen hängen zu bleiben.

Eins hat alles hier drin gemeinsam. Die Pflanzen, die Deko – alles tot. Das einzige Lebende ist die alte Frau, die uns immer weiter in ihre Höhle hineinführt. Aber auch sie ist dem Tod wohl näher als dem Leben.

"Setzt euch." Befiehlt sie und zeigt auf drei Holzhocker.

Zögerlich nehme ich Platz, aber entgegen meiner Erwartung hält der Hocker meinem Gewicht stand.

Die alte Dame verschwindet wieder und kurz habe ich Angst, jeden Moment das verriegeln der Tür zu hören. Angst, dass das hier eine Falle ist und die Hexe nur als Lockvogel dienen sollte. Doch wieder bestätigen sich meine Horrorvorstellungen nicht. Die Alte kommt mit einer Kanne Tee und vier Tassen zurück. Nachdem sie allein eingeschenkt hat nimmt sie gegenüber von uns Platz.

Die Szene könnte einem Film entsprungen sein. Gebeugt sitzt sie vor uns. Dazwischen ein Tisch, auf dem ein Blätterwirrwarr zusammen mit einer Kugel und einem alten Buch liegt. Auch hier hängen getrocknete Pflanzen von der Decke und auch der starke Duft von Lavendel hat uns bis hierher begleitet. Alles scheint danach zu riechen, selbst der Tee.

"Wie ihr sicher wisst, nennt man mich Madame Espoir."

Nelli nickt. "Ja, wir sind ..."

"Schweig Kind." Ihr Zeigefinger lässt Nelli innehalten. Augenblicklich werde ich kleiner auf dem Hocker. Die Ausstrahlung von Madame Espoir ist einschüchternd.

"Ich weiß, warum ihr hier seid. Und ich weiß, dass ihr beiden", sie zeigt auf Nelli und Gabriel, "die Verfluchte zu mir gebracht habt. Ihr seid gute Freunde."

Die Verfluchte, ja das bin ich. Ich bin auch die Mörderin. Doch ich war mal Tochter und Schwester. Aber das war in einem anderen Leben.

"Sie heißt Larissa." Korrigiert Nelli mutig.

Doch Madame Espoir schüttelt entschieden den Kopf. "Das war sie mal. Meine Bezeichnung war schon richtig." Sie nimmt einen Schluck vom noch dampfenden Tee, dann fällt ihr Blick auf mich. "Ich möchte es von dir hören. Alles. Erzähl mir alles was passiert ist, seit du das Buch berührt hast."

Sie schweigt. Ungeduldig zapple ich mit den Beinen. Nichts. Ich erzähle der selbsternannten Hexe all mein Leid, all das Schreckliche, was die letzten Wochen passiert ist und ihre Reaktion ist Schweigen.

Ihr Blick ist leer. Darin ist nichts, keine Antworten auf meine Fragen, keine Lösung für mein Problem.

Allmählich dämmert mir, dass sie keine Ahnung hat. Bei mir kann sie ihre betrügerische Masche nicht durchziehen. Sie kann mir schlecht einen ihrer Steine in die Hand drücken und ihn als Allheilmittel verkaufen. Sie weiß, dass wir darauf nicht hereinfallen würden. Klar ist auch, dass sie keinen ausgedachten, mystischen Reim auftischen kann. Keine ihrer billigen Täuschungen würde uns überzeugen.

Immer noch schweigt sie. Die ganzen Stunden, die ich mich gequält habe, völlig für umsonst.

"Vielleicht sollten wir ..." , setzte ich an, doch Madame Espoir unterbricht mich, wie sie es bereits bei Nelli getan hatte.

"Du strahlst Mädchen. Du bist so voll Energie. Dass du noch halbwegs klar denken kannst, grenzt an ein Wunder." Sie seufzt. "Ich kann dir nicht helfen. Nicht so. Ich brauche mehr Infos."

Ich sehe die Enttäuschung in Nellis und Gabriels Gesichtern, die auch mir einen Schlag versetzt.

"Wir haben ihnen alles gesagt, was wir wissen." Betrübt sieht Nelli zu Boden.

Der weite Weg – alles umsonst.

"Da sind immer mehr." Sie sieht uns fast mitleidig an. "Der Kopf. Der Geist. Sie wissen immer mehr. Die Infos sind nur versteckt. Tief in uns verborgen. Für die meisten unsichtbar. Doch nicht für mich. Ich werde sie sehen. Und die Verfluchte auch."

Madame Espoir erhebt sich. Sie humpelt um den Tisch.

"Wir werden zusammen in deinen Kopf eintauchen. So finden wir die Ursache deines Problems." Sie bleibt vor mir stehen. "Darf ich?"

Unsicher sehe ich zu den Anderen hinüber. Doch die beiden sehen ebenso unschlüssig aus wie ich.

"Tut es weh?"

Sie schüttelt den Kopf. "Nein. Meine Hand mag nicht so aussehen, doch sie ist ein Friedenbringer. Durch sie fließt das Wasser der Heilung."

"Sie wollen sagen, dass sie Larissa anfassen und dann ist sie geheilt?" Gabriel lacht ungläubig.

"Dummerchen. Nein." Sie schnaubt. "Wunderheilung gibt es nicht. Heilung ohne etwas zu tun – gibt es nicht. Wäre die Welt so einfach, gäbe es wohl kein Leid. Ihr seid so naiv, obwohl ihr das Leid in Person gesehen und erlebt habt."

Es ist klar, dass sie mich meint. Es tut weh. Ich bin das Leid. Doch nicht nur für andere – auch für mich selbst.

"Ich kann der Verfluchten nur dabei helfen, zu erkennen wie sie das Leid in sich bereinigen kann. Doch Heilen muss sie sich selbst." Wieder seufzt sie. "Also, darf ich jetzt?"

Als ich erneut zögere, wird ihr Blick düster. "Denkst du echt, du hast eine Wahl? Ich bin die Einzige die dir Zeigen kann wie du dich bereinigst. Willst du denn wieder Larissa werden? Oder bleibst du lieber die Verfluchte bis zu deinem Tod?"

"Zeigen sie es mir." Entschlossen blicke ich ihr entgegen.

Sie schmunzelt. "Okay, dann wollen wir doch mal sehen." Sie legt ihre Hände auf meinen Kopf. Augenblicklich verstehe ich, was sie damit meinte, dass Wasser durch ihre Hände fließen würde.

Es tut nicht weh. Nein, es klärt meinen Kopf. Das befreiende Gefühl, wie wenn ich unter Wasser tauche überkommt mich. Wie ein Fluss, der seinen Weg ins Meer sucht, spüre ich Madame Espoir, die immer tiefer in meinen Kopf eindringt.

Ganz sacht und ohne jeglichen Schmerz, fließt sie immer weiter dem Licht entgegen. Dorthin, wo der Frieden herkommt. Immer näher. Immer tiefer. Immer wärmer. Bis ich schließlich ganz und gar von Licht umhüllt bin. Umhüllt von Frieden und Unbeschwertheit.

Ich erkenne ihn direkt. Lucianas Garten. Er ist genauso, wie ich ihn mir vorgestellt habe.

"Sind sie glücklich?", höre ich Luciana fragen. Ich erkenne die beiden einige Schritte entfernt von mir. Sie sind schon fast in der hintersten Ecke ihres Gartens angelangt, dort wo die Wege immer weniger Platz hergeben.

Ludwig lacht überrascht. "Ja, ja ich bin glücklich."

Für einen Moment verrutscht ihr Lächeln, doch sie fängt sich schnell wieder. Da sie aufgrund des Platzmangels sowieso hintereinander laufen, hat er es wahrscheinlich nicht einmal gesehen.

"Meinen sie nicht, dass sie unter anderen Umständen glücklicher wären?" Luciana bleibt stehen und sieht ihn an. Ludwig tut es ihr gleich, entgegnet ihr jedoch mit einem irritierten Blick. Er scheint nicht ganz zu verstehen was sie meint. Sie dagegen ist der festen Überzeugung, dass die Energie, die sie zwischen ihnen Spürt offensichtlicher nicht sein kann.

Die beiden stehen recht nah beieinander zwischen zwei Hochbeeten, die nur wenig Platz zwischen sich hergeben. Ich weiß, worauf das hinausläuft. Ich habe es gelesen.

Sein Blick fällt auf Luciana, die ihn abwartend ansieht. Gerade setzt er zum Antworten an, da rückt sie noch etwas näher an ihn heran.

Dann, schneller als er reagieren kann, greift sie ihn an der Jacke, zieht ihn zu sich nach unten und legt ihre Lippen auf die seinen.

So habe ich es gelesen und so sehe ich es nun mit eigenen Augen.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt