Ludwig X

9 1 24
                                    

Wie lange ich jetzt bereits hier in der Ecke sitze, weiß ich nicht. Aber mehrere Tage sind es schon. Immer noch warte ich darauf, dass etwas passiert. Doch nichts regt sich.

Niemand ist gekommen, um mich festzunehmen. Niemand ist gekommen mich zu bestrafen. Immer noch bin ich gefangen in diesem Albtraum.

Ich habe Durst, habe Hunger, doch runtergehen kommt nicht in Frage. Unten liegen die Leichen. Unten liegt meine tote Familie - meine Kinder - meine Frau. Dran glauben möchte ich nicht. Möchte nicht realisieren, dass sie tot sind. Das ich sie umgebracht habe. Dabei sehe ich es immer wieder vor meinen Augen. Wie ein Film, der sich wiederholt. Eine Endlosschleife. Es ist schrecklich. Meine Hände, die am Hals meiner Frau liegen, ihr die Luft zum Atmen nehmen. Ihre Augen, die ihren Glanz verlieren. Karl, wie er mich ungläubig, angsterfüllt ansieht. Seinen Vater und Mörder. Die kleine Elise, die nicht versteht was gerade passiert, die auf mich zu gerannt kommt.

Auch sie, tot.

"Ludwig." Elisabeth? Ich höre ihre Stimme klar und deutlich. Beim Versuch mich zu erheben, scheitere ich, mein Körper ist zu schwach. Also suche ich sie nur mit meinem Blick.

"Ludwig." Da ist sie wieder. Vielleicht ist der Albtraum vorbei. Sie lebt. Sie muss am Leben sein, so klar und deutlich höre ich ihre Stimme. Ich versuche erneut aufzustehen - erfolglos.

"Du hast mich umgebracht Ludwig." Nein.

"Du hast unsere Kinder umgebracht." Nein. Nein. Nein.

"Du bist schuld, dass meine Leiche im Flur verrottet. Du bist schuld, dass Elise und Karl viel zu jung diese Erde verlassen mussten."

"Beth. Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht." Tränen rennen mir über die Wangen, Ich habe euch doch geliebt.

"Du bist ein Mörder." Karl, es ist seine Stimme.

"Karl. Mein Sohn. Es tut mir leid!"

"Mörder." Diesmal ist es Elise, die mich mit ihrer Piepsstimme beschuldigt.

"Es tut mir leid. Es tut mir so unglaublich leid. Wirklich, ich wollte euch nichts antun", schluchze ich.

"Mörder! Mörder! Mörder!" Ihre Stimmen vermischen sich, werden immer lauter. Sie schreien. Aber nur in meinem Kopf, denn in der Realität sind sie sind weg - tot. Nicht mehr bei mir. Ich fasse mir an den Kopf, der sich mittlerweile leicht taub anfühlt.

Mir kommt es vor, als könnten die Stimmen nicht lauter werden und doch dröhnt mein Kopf immer und immer mehr. Ihre Rufe - immer und immer lauter.

Dann höre ich ein Knarzen. Ruhe - die Stimmen sind weg. Man könnte meinen, sie sind nie da gewesen, wären da nicht die Kopfschmerzen, die sie hinterlassen haben. Wieder ein knarzen.

Die Tür. Sie holen mich, jetzt werde ich bestraft. Sie müssen die Leiche des Mannes gefunden haben. Es muss doch einen Zeugen gegeben haben, der mich - den Mörder - gesehen hat.

Wieder ein knarzen. Jetzt ist es die Treppe. Schritte, die immer näherkommen. Ich merke, wie ich mich versteife, die Muskeln anspanne. Den Blick auf die Tür geheftet. Dann sehe ich den Eindringling.

"Ludwig. Was ist denn mit dir los? Warum kauerst du hier? Und wo ist deine Frau?", plappert Hermann und kommt zur Tür herein.

"Was machst du hier?", ist das Erste, was ich hervorbringe.

"Geht es dir gut?", er sieht mich an, als wäre ich nicht ganz bei Verstand - womit er recht haben könnte.

"Wir sind doch zum Essen verabredet, wie jeden Sonntag, aber unten ist niemand. Wo ist Elisabeth und wo sind die Kinder?"

Sonntag. Es sind also zwei Tage vergangen. Meine Familie ist seit zwei Tagen tot. Wieso hat er die Leichen nicht gesehen? Sie liegen frei im Flur herum - Beth direkt neben der Tür.

Bring ihn um! Da ist sie. Die Stimme. "Nein, das werde ich nicht", nuschle ich.

"Was hast du gesagt?" Hermann sieht mich mitleidig an. Ich muss schlimm aussehen, verheult und blass.

Dann ändert dich seine Mimik. Er hat das Blut gesehen. Ich habe mich unterdessen erhoben. Woher ich plötzlich die Kraft nehme, weiß ich nicht, aber ich fühle mich auf einmal nicht mehr so schwach.

Es ist die Stimme, die mir Kraft gibt - die in meinem Kopf schreit. Hermann macht einen Schritt zurück. Er scheint zu merken, wie sich meine Körperhaltung ändert. Trotzdem schafft er es nicht rechtzeitig mir auszuweichen, als ich mich auf ihn stürze. Zusammen fallen wir zu Boden. Bevor er sich vom Schreck erholen kann, schlage ich auch schon zu.

Meine Faust trifft in mit einer Wucht, dass er Blut spuckt. Ich treffe ihn weitere zwei Male bis er reagiert und versucht mich von ihm runterzustoßen. Das gelingt ihm nach einigen Anläufen.

Ich Falle zur Seite. Jeder Zentimeter meines Körpers tut höllisch weh, dazu kommt, dass ich tierischen Hunger und Durst habe. Doch die Stimme treibt mich an - erlaubt mir keine Pause. Sie gibt mir die Kraft, mit der ich mich wieder auf Hermann stürze.

Aber Hermann ist ein ebenbürtiger Gegner. Er ist kein Kind oder eine körperlich unterlegene Frau, welche ich mit Leichtigkeit umbringen konnte. Er wehrt sich und das ziemlich gut.

Mir fällt ein, dass er einmal beim gemeinsamen Essen erzählt hat, dass er früher häufig in Straßenkämpfe verwickelt war. Er stammt aus ärmeren Verhältnissen. Ganz im Gegensatz zu seiner Frau Charlotte. Es ist damals Tratschthema Nummer eins gewesen, dass sie mit dem Mann aus der Gosse geliebäugelt hat.

Aber Charlotte war schon immer jemand, dem das Getratsche egal war und nach wenigen Wochen war das Thema auch schon wieder vergessen. Es gab neues zum Lästern.

Dieses Mal ist Hermann schneller und ich fasse ins Leere. Schnell rapple ich mich wieder auf.

"Ludwig was soll das?", keucht mein Freund. Ich würde ihm gern antworten, doch ich weiß es selbst nicht. Ich weiß nicht, woher diese Stimme kommt. Warum ich ihr unterlegen bin und wieso sie immer den Tod fordert. Ich weiß es nicht.

Im Augenwinkel sehe ich die Öllampe auf der Kommode und ergreife die Chance. Getrieben von der grausigen Stimme nehme ich die Öllampe und ziehe sie Hermann über den Kopf, sodass dieser zu Boden geht. Sofort kommen Bilder des ersten Mordes in meinen Kopf. Wieder will ich ihm nichts tun. Aber die Stimme gibt keine Ruhe. Die Lampe lasse ich fallen.

Dann setze ich mich auf Hermann und wie von selbst wandern meine Hände zu seiner Kehle. Er versucht sich noch zu wehren, doch auch ihn verlässt die Kraft. Meine Hände nehmen ihm die Luft, wie sie es schon bei meiner Frau getan haben und eben wie bei ihr, wird auch sein Blick starr.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt