Kapitel 33

3 1 0
                                    

Gestern Abend hatten Nelli und ich beschlossen, aufgrund der nervenaufreibenden Ereignisse, heute einen weiteren Ruhetag zu machen, damit ich mich mit der jetzigen Situation anfreunden und noch etwas Kraft tanken kann.

Genau diesem Plan folge ich, schlafe aus, mache mich gemütlich fertig und setzte mich danach noch an meinen Schreibtisch, um meinen Traum aufzuschreiben, da ich gestern einfach zu müde dafür war. Dabei versuche ich alles so genau wie möglich zu vermerken. Dann lege ich es zu den anderen dazu und lasse mich von Nelli abholen.

Von ihr erfahre ich, dass sie auch noch nicht sehr lange wach ist, sodass wir gemeinsam frühstücken können.

Dass wir nicht nur Nelli und mich einschließt, sehe ich in der Küche. Am Esstisch sitzt Gabriel.

So schnell wie die Stimme auf ihn reagiert, kann ich gar nicht denken. Kaum habe ich ihn erblickt, werfe ich mich schon nach vorne auf ihn. Mit aller Kraft, reißt mich Nelli an meinen Fesseln zurück. Sie zieht mich auf den freien Stuhl und bindet mich fest. Erst hier kann ich mich einigermaßen Kontrollieren.

"Ich denke es ist besser, wenn du auf Abstand gehst." Ich sehe zu ihm auf. Erneut ist da dieser gekränkte Ausdruck. Aber es geht nicht anders.

"Ich akzeptiere, dass du hier bist, aber du siehst ja was passiert, wenn ich dich sehe. Bitte, das kostet mich zu viel Kraft." Ich versuche ein entschuldigendes Lächeln aufzubringen.

"Du wirst das besiegen. Wir werden dir helfen", sagt er entschlossen, bevor er den Raum verlässt und ich endlich aufatmen kann.

"Das wird schon. Irgendwann wird es leichter." Nelli seufzt.

"Das kann man nur hoffen."

Nelli und ich essen wie gewohnt zusammen und verkrümeln uns danach in die Bibliothek. Da ich mit der Trilogie zu Ende bin, suche ich nach einem neuen Roman. Mit den Fingern fahre ich über die Buchrücken, lese die Titel, warte darauf, dass mir eines davon ins Auge springt, mich fesselt. Ich bleibe irgendwo zwischen den Genre Action und Science-Fiction hängen. Oblivisci, der Name war mir direkt aufgefallen. Vorsichtig streiche ich über den Titel und ziehe es heraus. Nachdem ich etwas herumgeblättert und den Klapptext gelesen habe entscheide ich mich schließlich dafür.

Nelli seufzt glücklich. Wenn es nach ihr geht habe ich mal wieder viel zu lange gebraucht. "Können wir dann?"

Ich sehe über meine Schulter und erblicke Nelli in einem der Sessel fläzend. Lachend nicke ich und wir gehen in ihr Zimmer.

Während sie lernt, sitze ich wieder auf ihrem Bett und blättre im Buch zum ersten Kapitel.

Gefesselt von der Geschichte, merke ich nicht, wie die Zeit vergeht. Erst als Nelli etwas von Mittagessen erzählt lege ich das Buch weg und folge ihr in die Küche.

Dieses Mal ist Gabriel nicht dort. Er hält sein Versprechen, hält sich fern.

Nach dem Essen gehe ich in mein Zimmer, um auch mal wieder was für die Schule zu tun. Aber auch, um Nelli ein wenig Zeit allein zu gönnen.

Irgendwann habe ich keine Lust mehr und verbanne die Hefter zurück in die Schublade. Wer weiß, vielleicht brauche ich das dumme zeug eh nie mehr.

Stattdessen nehme ich das Tagebuch und meine Traumnotizen vor. Mit etwas Glück entdecke ich etwas, dass wir noch nicht wissen. Jedenfalls erscheint mir diese Tätigkeit sinnvoller, als Geschichtsdaten auswendig zu lernen, die ich bis ich wieder in die Schule kann sowieso wieder vergessen werde. Falls es überhaupt dazu kommen sollte.

Ich lese mir alles noch einmal durch. Jeden Traum. Versuche mich an weitere Details zu erinnern, die ich noch nicht notiert habe.

Dann lese ich das Ganze noch einmal. Wieder und wieder. Bis ich den Text beinah auswendig kann. Nichts. Ich werde nicht schlau daraus. Ich bin mir nun zwar eigentlich sicher, dass mein letzter Traum nicht durch Ludwigs Augen war, einfach, weil nichts davon zu ihm passen würde, aber die Hand ins Feuer dafür legen würde ich nicht. Und wenn er es nicht war, wer dann?

Zu viele Fragen und zu wenig antworten. Frustriert lege ich auch diesen Stapel an Aufgaben zurück. Es bringt ja doch nichts.

Es bleiben mir noch wenige Stunden bis zum Abendbrot, also bitte ich Nelli, mich raus zu lassen, damit ich wieder zum See kann.

Ich folge meinem nun besser plattgetrampelten Pfad zum See. Dieses Mal sogar ohne Umwege.

Angekommen betrachte ich das Wunder, setzte mich auf die Decke, welche ich mir mitgenommen habe. Nur schwimmen werde ich heute nicht, dafür ist es schon zu kalt.

Ich lausche der Melodie des Waldes und genieße die vollkommene Ruhe, welche mir hier, ohne das Bedürfnis jemandem an die Kehle zu springen vergönnt wird. Hier könnte ich verweilen – für immer.

Wie sehr mich dieser Moment berührt merke ich, als mir die erste Träne die Wange hinunterläuft. Weitere folgen ihr. Ich vermisse diesen Frieden, den ich hier verspüre. Früher hatte ich mich jeden Tag so gefühlt. Früher als Luis noch am Leben war. Als er mir von seinem Tag berichtet hat, voll Lebensenergie, voll Freude. Ich vermisse es, wie er mich begrüßt hat, mir in die Arme gefallen ist. Jeden Abend warte ich, dass er kommt, um mir eine gute Nacht zu wünschen – aber er kann nicht mehr.

Meine Wangen werden immer nässer, doch ich lasse es zu. Ich will diesen Schmerz fühlen. Das macht ihn real. Der Schmerz bedeutet, dass Luis mal bei mir gewesen ist und dass diese Zeit so unglaublich schön war. Und ich will mich daran erinnern - will keinen Moment davon vergessen.

Also sitze ich da, erinnere mich an all die schönen Momente, die ich mit Luis teilen durfte, weine um die, welche ich uns genommen habe. Weine um das Leben, dass wir beide hätten führen können.

Komplett eingenommen von meinen Gefühlen geben selbst die Stimmen der anderen Ruhe. Ein kleiner Augenblick des absoluten Friedens. Nur ein kurzer.

Bevor die Sonne den Horizont verlässt kehre ich zurück zur Hütte. Dort esse ich gemeinsam mit Nelli Abendbrot und verkrümle mich danach in mein Zimmer.

Anders als Nelli es vielleicht erwartet und ich mir vorgenommen hatte, rühre ich das Tagebuch nicht an, lese nicht weiter.

Lieber nehme ich mir mein Handy, sehe mir alte Bilder an. Bilder von Luis, Gabriel und mir, aber auch von Maria, die ich ebenfalls unglaublich vermisse. Sie war die beste Pflegemutter die ich mir hätte wünschen können.

Als ich gerade bei den Bildern vorm Urlaub angekommen bin und mich still über den Haarschnitt meines Vaters amüsiere, bekomme ich eine Nachricht. Sie ist von Gabriel.

Ich zögere einen Moment, dann öffne ich sie. "Schläfst du schon?"

"Nein." Tippe ich, um nur kurze Zeit später eine weitere Nachricht zu empfangen.

"Ich vermisse dich."

Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Ich dich auch, denke ich, zögere jedoch es zu schreiben. Es ist wichtig, dass er Abstand hält. Auch wenn er körperlich Nelli überlegen wirkt, kann er sich nicht einmal halb so gut gegen mich behaupten, wie sie.

Es darf sich nicht wiederholen. Niemandem werde ich mehr wehtun. Es geht nicht anders.

Ohne zu antworten lege ich das Handy auf den Nachtschrank und drehe mich zur Wand.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt