Kapitel 43

5 1 14
                                    

Wieder werde ich von Licht umhüllt. Noch bevor ich wieder klarsehen kann, höre ich Schreie.

Es sind keine Hilfeschreie. Nein, diese gehören zu einer Menschenmasse, die laut jubelt. Als ich den Grund für ihr Jubeln erkenne, halte ich die Luft an. Auch hiervon hatte ich gelesen. Ludwigs Hinrichtung.

Seine Verzweiflung, seine Trauer und seinen Wunsch auf Erlösung haben mich seitdem begleitet.

Ich hatte mich das erste Mal verstanden gefühlt. Seine Gefühle waren den meinen so ähnlich, seine Gedanken haben ausgesprochen, was ich nicht in Worte zu fassen vermochte.

Und dann sehe ich ihn. Er ist so dünn, wirkt so gebrechlich. Und er ist gebrochen. Lucianas Werk. Sie hat ihm diesen Fluch auferlegt. Sie ist auch an meinem Elend schuld.

Zwei Wachen zerren Ludwig die Tribüne hinauf zum Fallbeil. Immer aggressiver schreien die Leute nach seinem Tod. Sie haben ja keine Ahnung.

Tränen rollen mir über die Wangen. Ich war bereits überwältigt das Geschehene zu lesen. Nun sehe ich es. Aber ich bin nur stille Zuschauerin. Ich kann ihn nicht retten. Kann ihm nur beim Sterben zusehen.

Sie legen ihn unter das Fallbeil, sprechen sein Urteil, ohne die geringste Ahnung dessen, was wirklich geschehen ist. Wer kann es ihnen verübeln?

Ich sehe mich um, suche nach bekannten Gesichtern und werde fündig.

Natürlich bin ich nicht hier, um Ludwig beim Sterben zuzusehen. Ich bin wegen ihr hier.

Luciana steht etwas entfernt von der Masse, im Halbdunkeln. In ihrer Hand: Das Buch.

Das hier ist die Lösung. Es muss so sein. Ich zwänge mich an einem Haufen Menschen vorbei, aus der Masse hinaus. Einige grummeln empört, doch sind sie viel zu fokussiert auf die Tribüne, sodass sie mich lassen. Sie wollen nichts verpassen, viel zu sehr freuen sie sich auf die, in ihren Augen gerechte Strafe.

Außerhalb der vielen Menschen kann ich freier atmen. Ich orientiere mich kurz, dann setzte ich meinen Weg fort.

Wie sie da steht, dass Gesicht hasserfüllt, der gesamte Körper vor Wut verspannt, ähnelt sie kein bisschen mehr der Beschreibung von Ludwig.

Sie erschien ihm als kleine Elfe, als Porzellanpüppchen. Nun könnte sie nicht weiter davon entfernt liegen.

Ich schleiche mich leise an sie heran, mir dessen bewusst, dass sie nur aufblicken muss, damit ich auffliege. Doch sie ist viel zu vertieft auf ihr Vorhaben, sodass sie mich nicht bemerkt. Selbst nicht, als ich nur noch einen Schritt von ihr entfernt stehe.

Auf der Tribüne ist die Urteilsverkündung beendet. Ludwig hat nur noch wenige Sekunden auf dieser Erde.

Das muss das Startsignal für Luciana gewesen sein. Sie legt das Buch an ihre Brust und fixiert Ludwig mit ihrem Blick.

Luciana zerkaut etwas, schluckt, dann schließt sie die Augen – drückt das Buch fest an sich.

"Istenem hallgass meg. Soll Frieden ihn nur ereilen, wenn er selbst zum Sünder wird. Sollen die Seelen seiner Opfer mit ihm verweilen, gequält in dem Buch, dass ich bei mir trage."

Glitzern umfasst das Buch. Zufrieden lächelt sie in sich hinein, dann sieht sie auf zur Tribüne. Ich folge ihrem Blick, doch Ludwigs Leben ist bereits zu Ende.

Und wieder umhüllt mich das grelle Licht.

Ich schnappe nach Luft. Keuchend sehe ich mich um. Dabei begegne ich Nellis und Gabriel erwartungsvollen Blicken. Ich bin zurück – bin wieder aufgetaucht.

Madame Espoir nickt zufrieden und geht zurück auf ihren Platz. "Dein Inneres wusste mehr als ich zu hoffen gewagt hatte."

"Also können sie Larissa heilen?" In Nellis Stimme schwingt so viel Hoffnung mit, dass ich anfangen möchte zu weinen.

"Ihr hört mir nicht zu! Ich kann niemanden heilen. Erst recht keine Verfluchte." Empört schüttelt sie den Kopf. "Heilung ist Arbeit. Für Frieden muss man etwas tun. Für den Eigenen kann nur jeder für sich etwas tun."

Sie zeigt auf mich. "Nochmal: Die Verfluchte muss sich selbst heilen."

"Aber wie?" Nelli scheint langsam die Geduld zu verlassen.

"Schweig und hör zu, anstatt die ganze Zeit nur dumm rum zu brabbeln."

Madame Espoir wendet den Blick von Nelli ab. Nun fixiert sie mich. Ihre Augen durchdringen mich – ihr Blick hält mich gefangen. Ich wage es nicht mich zu bewegen, oder gar zu Atmen.

"Du, du Verfluchte, pass nun genau auf. Hier ist dein Rezept zur Heilung."

Ich nicke zögerlich.

"Du hast gehört was die schwarzhaarige Frau gesagt hat."

Wieder nicke ich.

"Das ist der Schlüssel. Dein Frieden ist der Schlüssel. Ludwig hat es nicht geschafft, doch du kannst es beenden. Finde Frieden und du wirst sie alle – jedes einzelne Opfer, einschließlich Ludwig, sowie dich selbst - befreien. Es ist dein Frieden. Mit dir kann es enden."

Es ist wie ich befürchtet hatte. Schon in der Hütte, aber auch bei meinen Tauchgängen hatte ich es gespürt. Es endet mit meinem Tod. Mein Leben, für das Erlösen der gequälten Seelen.

"Sie soll sterben?" Stottert Nelli, die zur selben Erkenntnis gelang wie ich.

"Das kann nicht die Lösung sein." Ich begegne Gabriels traurigem Blick. Nie zuvor erschienen mir seine eigentlich so hellen Augen so düster, so dunkel und ohne jegliche Hoffnung darin. Betretene Stille macht sich breit.

Doch sie währt nicht lange. Madame Espoir unterbricht sie durch erneutes Seufzen. "Das kann nicht euer Ernst sein. Ihr hört nicht zu! Sieht es denn niemand von euch? Wenigstens die Verfluchte müsste es doch sehen. Du hast den Fluch doch gehört. Hast du ihren Worten eben so unachtsam gelauscht, wie den meinen?"

"Ich muss nicht sterben?"

Sie schüttelt den Kopf. "Ludwig ist gestorben. Doch der Tod bringt nicht zwangsläufig Frieden. Er hat von Schuldgefühlen geplagt diese Erde verlassen – wie könnte das auch nur im Entferntesten Erlösung verheißen?"

Nacheinander sieht sie uns beinah verzweifelt an.

"Seid ihr denn wirklich so blind? Seht ihr denn nicht die Lösung, welche euch regelrecht entgegenspringt?"

Wie heute schon so oft, schüttelt sie wiederholt den Kopf. "Es ist Vergebung. Die Verfluchte muss anerkennen, dass nicht sie der Leidbringer ist, sondern der Fluch. Die Stimme, wie ihr es nennt. Larissa hat niemanden ermordet. Es war die Verfluchte. Mein Kind du musst dir vergeben. Erkenne deine Unschuld an. Ich spüre, dass es deine Freunde bereits vor langer Zeit erkannt haben. Erkenne es nun auch selbst. Sprich dich frei. Finde deinen Frieden. Vergib dir selbst. Der Sünder bist nicht du. Der Sünder ist die Frau mit der Porzellanhaut."

Beinah ermutigend nickt sie mir zu. "Durch das wiederherstellen deines inneren Gleichgewichts wirst du sie befreien – alle. Weit vergangene und gegenwärtige Opfer. Du kannst sie befreien. Befreie nur vorher dich selbst und sie werden aufsteigen."

Tränen rennen mir die Wangen hinab. Mein ganzer Körper ist übersäht mit Gänsehaut. Ich möchte etwas erwidern. Ein Wort des Dankes oder der Gleichen, doch meine Lippen verlässt nur ein Wimmern.

Madame Espoir nickt wissend. "Schon gut mein Kind. Ich kann spüren, dass du es schaffen kannst. Du bist stark, weit aus stärker als vielleicht vermutest."

Nelli greift nach meiner Hand, drückt sie.

"Das ist keine leichte Aufgabe. Ihr Menschen neigt dazu sehr hart mit euch zu sein. Doch es wird dein letzter Kampf sein." Ein zögerliches Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. "Das bedeutet aber immer noch nicht den Tod", fügt sie mit einem Blick auf Nelli an.

"Damit meine ich, dass ich einen länger währenden Frieden erkenne. Glück, wenn man es so nennen möchte. "

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt