Kapitel 18

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Ich sinke erneut in mich zusammen, als er sich seiner Unterhose entledigen will.

Mein Kopf klappt zur Seite. Direkt neben mir ist die Ecke, die mir das letzte Mal Schutz geboten hatte. Nicht so heute.

Ich erinnere mich, wie ich das Tagebuch unterm Regal hervorgezogen habe.

Stimmt, das wollte ich ja noch lesen.

Aufgrund der Tränen, erkenne ich nur grün im untersten Teil. Ich versuche meine Sicht zu schärfen, zu erkennen, was wir dort lagern.

Glasflaschen. Das sind unsere Wasserflaschen.

Ohne weiter darüber nachzudenken nehme ich die Erste, die ich greifen kann und schlage sie Raik, als er mich wieder nach oben ziehen möchte, mit voller Wucht gegen den Kopf.

Mit einem Keuchen sinkt er in sich zusammen. Wasser verteilt sich auf dem Boden, mischt sich mit Blut. Erschrocken lasse ich den Flaschenkopf fallen. Er zerspringt auf den Fliesen.

Ich kauere am Regal, atme viel zu schnell, schluchze vor mich hin.

Wie konnte es so weit kommen? Ich will wegrennen, mich in Sicherheit bringen - wo auch immer das ist. Aber mir fehlt die Kraft. Es ist als wäre ich einen Marathon gerannt. Jede Faser meines Körpers schmerzt. Ich schaffe es einfach nicht, mich zu bewegen. Und so verharre ich eine Weile in meiner Position.

Raik bewegt sich nicht. Ich nehme an, dass er bewusstlos ist. Doch wie viel Zeit bleibt mir? Wann kommt er wieder zu sich und wird sich an mir rächen?

Ich sehe auf die grünen Scherben, die am Boden verteilt liegen. Nimm eine Scherbe! Meine Hand schnellt nach vorne und greift nach einer der Scherben.

Was will ich mit der Scherbe, schießt es mir durch den Kopf. Wieder ist da dieses Gefühl, diese innere Stimme, die mir die Antwort zuruft. Bring ihn um!

Nein. Das kann ich Luis nicht antun. Ich kann sein Weltbild nicht zerstören. Er darf nicht schon wieder diese Qualen durchleiden. Ich fliehe einfach, gehe nach draußen. Verstecke mich irgendwo hinter dem Hügel, wo ich mit Gabriel war, bis Maria und Luis zurückkommen.

Ich will gehen. Ich will aus dem Haus rennen. Aber mein Körper gehorcht nicht meinem Willen. Er unterliegt dem Drang, der schreienden Stimme.

Ich greife fester um die Scherbe. Blut tropft von meiner Hand auf dem Boden, mischt sich dort mit Raiks Blut und dem Wasser.

Ich krieche seinen Körper entlang zu seinem Kopf. Schlaff hängt dieser zur Seite.

Ich mache seinen Hals frei. Dann schneide ich. Die Scherbe hinterlässt einen tiefen Schnitt. Blut rinnt unaufhaltsam aus der Wunde. Färbt seinen Pullover rot.

Raik ist Tod. Ich habe ihn getötet. Erschrocken lasse ich die Glasscherbe fallen. Wieso habe ich das getan? Ich wollte das nicht. Ich starre auf die Leiche, dann auf meine Hände. Ich ich habe jemanden ermordet.

Meine Gedanken überschlagen sich. Was mache ich jetzt? War es Notwehr? Komme ich ins Gefängnis? Maria wird mir das niemals verzeihen. Was ist, wenn ich von Luis getrennt werde. Wieder rennen mir Tränen die Wangen hinab. Wieder atme ich unregelmäßig. Wieder schluchze ich. Wie konnte es nur so weit kommen? Wenn meine Eltern das sehen könnten, würden sie es verstehen? Habe ich sie enttäuscht? Luis, er darf das nicht sehen. Ich könnte nicht weiterleben, wenn er mich nur noch mit angsterfülltem Blick ansehen würde.

Ohne weiter nachzudenken renne ich die Treppen hinauf in mein Bad und verriegle die Tür.

Ich reiße mir beinah die Klamotten vom Leib, schmeiße sie in dem Müll. Tragen könnte ich sie sowieso nie wieder. An ihnen klebt nicht nur Blut, sondern auch diese scheußlichen Erinnerungen.

Ich stelle mich unter die Dusche, lasse eiskaltes Wasser über mich laufe, in der Hoffnung aus diesem Albtraum zu erwachen. Den Nebel, der sich in meinem Kopf breit gemacht hat zu vertreiben.

Aber die unendlich vielen Gedanken, die mich quälen werde ich nicht los. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Weiß nicht, was mich erwartet. Ich greife nach der Seife und verteile sie ausgiebig auf meinem Körper, schrubbe jeden Zentimeter Haut bis er rot ist. Versuche jede Erinnerung, jede Schuld von mir zu waschen. Als ob ich das könnte.

Immer wieder sehe ich die Leiche von Raik vor mir. Ein Bild, dass ich wohl nie wieder loswerde. Zwischendurch schluchze ich wiederholt, doch es kommen keine Tränen mehr. Ich habe schon zu viel geweint, jetzt kann ich es nicht mehr – will es auch nicht.

Ich verweile noch ein wenig unter dem eiskalten Wasserstrahl, bevor ich mich in ein Handtuch eingewickelt vor die Dusche setze.

Ich ziehe das Handtuch eng, wie eine zweite Schützende Haut an mich. Wie viel Zeit ist vergangen, seit ich das Haus betreten habe? Wie viel Zeit bleibt mir noch, bis Maria und Luis zurückkommen?

Wie lange wird es dauern, bis jemand die Leiche im Keller finden wird. Raiks toten Körper umgeben von einer riesigen Lache Blut. Ich möchte nicht, dass Maria ihn so sieht, noch weniger, dass Luis es tut.

Ratlos sitze ich einfach nur da, warte, dass sich das Problem von selbst löst. Warte, dass etwas passiert. Nichts. Stille. Ich bin allein.

Nach einer Gefühlten Ewigkeit ohne Ergebnis, stehe ich langsam auf. Es fällt mir schwer, ich bin ausgelaugt, energielos. Wären da nicht diese schrecklichen Bilder, die mir immer wieder vor Augen kommen, wenn ich sie schließe, wäre ich vermutlich auf der Stelle eingeschlafen.

Ich stütze mich am Waschbecken ab und sehe in den Spiegel. Mit meinem Spiegelbild konfrontiert, könnte ich direkt wieder weinen.

Ich sehe aus, wie eine Leiche. Meine Haut ist ebenso blass, wie die von Raik. Meine Augen leer. Jegliche Freude, alles Leben, ist aus meinem Ausdruck gewichen.

Müde blicke ich meinem Selbst, dass mir in dem Moment wie eine andere Person erscheint, entgegen. Das bin doch nicht ich. Es ist nur wenige Monate her, da war ich voller Lebenslust, glücklich, sicher. Dann starben meine Eltern. Und jetzt bin ich eine Mörderin. Jetzt habe ich meiner Pflegemutter, die alles für mich und Luis gemacht hat, den Ehemann genommen.

Ich habe einen Menschen umgebracht. Wie konnte es so weit kommen? Hätte ich es einfach ertragen sollen? Hätte ich es über mich ergehen lassen, hätte ich mich bloß nicht gewehrt. Vielleicht hätte mich Raik danach in Ruhe gelassen. Hätte ich nicht nach dieser Glasscherbe, erst gar nicht nach dieser verdammten Flasche gegriffen, müsste ich nun nicht vor dem Spiegel stehen und einer Mörderin ins Gesicht sehen.

Wieso habe ich ihn umgebracht? Ich wollte es nicht.

Hätte man mich gestern befragt, dann hätte ich felsenfest behaupten nie auch nur einer Fliege etwas zu leide tun zu können. Jetzt stehe ich hier blicke mich selbst im Spiegel an, erkenne mich nicht wieder.

Ich starre mit mir um die Wette, warte darauf einfach tot umzufallen. Doch wieder passiert nichts. Die Stille umringt mich; streift, wie spitze Nadeln meine Haut entlang.

Ein grausamer Gedanke jagt den nächsten. Bin ich gefährlich? Kann ich mir noch selbst vertrauen? Kann sich dieses Schicksal wiederholen? Was, wenn ich noch jemandem schade, jemandem Leid zufüge? Muss ich meinen geliebten Bruder nun vor mir selbst schützen?

Was soll ich tun?

Ich sacke in mich zusammen. Vergrabe mein Gesicht in den Händen. Weine, ohne auch nur eine einzige Träne zu vergießen.

Ich gehe verschiedene Möglichkeiten durch. Ich könnte weglaufen, könnte mich stellen, oder könnte es vertuschen.

Nichts davon erscheint mir richtig. Ich will Luis nicht allein lassen. Aber kann ich wirklich bei ihm bleiben? Ist er sicher in meiner Gegenwart?

Er ist mein Bruder, mein ein und alles, doch gestern hätte ich auch behauptet niemals jemanden umbringen zu können. Heute sprechen die Fakten dagegen.

Ehe ich jedoch eine Entscheidung treffen kann, höre ich die Haustür ins Schloss fallen.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt