Kapitel 30

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"Hey, ich habe mit dem Essen auf dich gewartet." Begrüßt mich Nelli, während sie mir die Hände bindet.

Ich folge ihr in die Küche.

"Wie wars?" Sie füllt mir den Teller mit Suppe.

"Es war so schön, bis irgendwann die Stimmen aufgetaucht sind, dann war es nur noch anstrengend."

Mitleidig sieht sie mich an. "Schade, ich liebe unser Waldstück auch. Es ist traurig, dass du es nicht richtig genießen konntest."

"Ich konnte es, zumindest zu Beginn. Die Stimmen kamen erst auf dem Rückweg. Doch vorher habe ich eine Lichtung gefunden. Da war ein See."

Nellis Gesicht erhellt sich. "Ja klar. Da war ich früher immer mit meinem Vater schwimmen. Ich habe ihn als Kind Glitzersee getauft." Sie lacht.

"Eine wirklich passende Bezeichnung. Er ist wunderschön. Ich denke wir ..."

Ich spreche den Gedanken nicht zu Ende, denn genau in dem Moment fällt mir ein, dass er schwachsinnig ist. Es wäre leichtsinnig mit Nelli zusammen ins Wasser zu gehen. Wer weiß, ob sie sich dort ebenso gut, wie an Land wehren könnte. Wenn nicht, wäre es ein leichtes mit der Kraft der Stimme sie zu ertränken. Ausprobieren möchte ich es nicht. Man soll sein Glück nicht zu weit herausfordern.

"Ich möchte demnächst schwimmen gehen. Das könnte mich beruhigen. Vielleicht tut es gut, ich möchte es ausprobieren", korrigiere ich mich also.

"Das ist eine gute Idee. Ja, versuche es. Ich bin sicher, du wirst es lieben."

Wir essen beide auf. Danach bringt mich Nelli aufs Zimmer. Ich bin fertig. Obwohl heute eigentlich Ruhetag sein sollte, fühle ich mich Schwächer, als gestern Abend. Es waren die Stimmen, die mir während meines Waldspaziergangs die Kraft geraubt haben. Das Tagebuch rühre ich erst gar nicht an. Wieder kein Fortschritt.

Am nächsten Tag komme ich fast nicht aus dem Bett. Sowieso schon entkräftet wurde ich durch die Stimmen auch noch vom Einschlafen abgehalten. Viel zu lange habe ich wach gelegen, bis ich irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen bin. Nur mühsam mache ich mich fertig und warte, dass mich Nelli abholt.

Beinah hätte ich sie angesprungen, wäre sie nicht schnell genug mit den Fesseln gewesen. Ich ernte einen verwirrten Blick, dann gehen wir in die Küche.

Nach dem Essen, dass mir wenigstens ein wenig Kraft zurückgegeben hat, gehen wir nach unten in den Trainingsraum.

Die ersten paar Runden verläuft es einiger maßen reibungslos. Zumindest so gut wie sonst. Doch ab der dritten Runde ist meine Kraft ausgeschöpft.

Kaum hat Nelli meine Fesseln gelöst, springe ich schon auf sie zu. Die Stimme hat volle Kontrolle über meinen Körper. Außerdem dauert es ewig, mich zu beruhigen und wieder Herr meiner Sinne zu werden.

Nach dem fünften erfolglosen Versuch bringt Nelli das Training ab.

"Es hat keinen Sinn. Wir reizen dich nur weiter. Du wirst immer schwächer. Wir sehen morgen, wie es geht. Notfalls legen wir mehr Ruhetage ein. Lass dich deshalb nicht runterziehen. Irgendwann wird es besser."

Aber auch sie wirkt gefrustet. Es ist nicht einfach die Hoffnung zu behalten, wenn alles um einen nach Scheitern schreit.

Ich bedanke mich bei ihr und wir gehen hoch. Während Nelli ihre Zeit wieder zum Lernen nutzt, mache ich ein Nickerchen.

Ich wollte nicht in mein Zimmer, zu groß die Angst, die Stimmen könnten wieder über mich herfallen, deshalb liege ich in ihrem Bett. Nellis Präsenz ist wie eine schützende Hand, die mich vor ihnen bewahrt. Ironisch, wenn man bedenkt, dass sie – vor allem ohne Fesseln – die Stimme in mir erweckt.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt