Kapitel 03

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Nach zwei endlos langen Wochen darf auch ich das Krankenhaus endlich verlassen.

Luis durfte mich zwar jeden Tag besuchen, dennoch schlief ich die Nächte unruhig. Es war seltsam ihn nicht bei mir zu wissen. Am liebsten hätte ich ihn bei mir behalten, fest in meine Arme gedrückt.

Emotional waren diese zwei Wochen, die nervenaufreibensten meines Lebens - wie auch nicht. Wann immer wir versucht hatten etwas Normalität zu finden, indem wir zusammen Karten oder Würfel gespielt hatten, holten uns doch jeden Tag erneut die Geschehnisse ein.

Zu Beginn vermied ich es ebenfalls zu weinen, wenn Luis die Kraft verließ - ich wollte stark für ihn sein.

Mein Vorsatz hielt jedoch nicht lange und so weinten wir zusammen.

Zu meiner Überraschung half das gemeinsame Trauern sehr. Es half uns beiden.

Es ließ mich wieder atmen, gab mir Hoffnung. Luis begann ab und zu wieder zu lachen, in einem der unbeschwerten Momente, die wir gemeinsam wieder erlebten. Selten zwar, dafür aber umso überwältigender. Ein kurzer Augenblick, in dem die Welt in Ordnung schien. Ohne Leid, ohne Verlust.

Wie sich über die Zeit herausgestellt hatte, hieß die alte Dame, mit der ich das Zimmer teilte, Rose Albrecht.

Da ich mit ihr meinen gesamten Aufenthalt über, kein einziges Wort, das über Begrüßung und andere Höflichkeitsfloskeln hinaus geht, gewechselt habe, fällt auch die Verabschiedung kurz und emotionslos aus.

"Auf Wiedersehen." Ich bemühe mich um ein Lächeln in ihre Richtung. Nachdem ich von ihr jedoch nur ein abweisendes: "Ja, tschüss", erhalte, lasse ich, ohne zurückzuschauen die Tür hinter mir zufallen.

Vorm Krankenhaus warten, wie von Frau Bauer angekündigt, sie und Luis auf mich.

"Na Zwerg", begrüße ich Luis und wuschle ihm durch sein Haar, das ohne den regelmäßigen Haarschnitt ungewöhnlich lang geworden ist. Gespielt empört richter er seine Mähne wieder.

Nach kurzer Begrüßung mit Frau Bauer, führt sie uns zu ihrem Auto und die Fahrt in unsere Zukunft beginnt.

Sehr zu meiner Überraschung hatte das Jugendamt, vor einigen Tagen, eine Pflegefamilie für uns gefunden - Herr und Frau Malcom.

Das Jugendamt, so hatte Frau Bauer es erklärt, hat dabei wohl extra eine Familie ohne weitere Kinder ausgesucht, damit diese sich voll und ganz auf Luis und mein Wohlbefinden konzentrieren können.

Die Malcoms wohnen mehrere Stunden vom Krankenhaus entfernt, sodass die Fahrt Ewigkeiten dauert. Mit ihr die Aufregung, die stetig wächst.

Leider wohnen die Pflegeeltern auch weit von unserem Zuhause entfernt, sodass wir nicht nur unsere geliebte Stadt zurücklassen müssen, sondern Luis auch seinen Kindergarten und ich die Schule wechseln müssen.

Ich merke meinem Bruder deutlich die Anspannung an. Nervös kaut er auf seinen Fingernägeln herum. Vor einer Stunde habe ich bereits aufgegeben ihn davon abzubringen. Mittlerweile würde ich es ihm gerne gleich tun.

Anders als Luis hinterlasse ich zwar keine Freunde, dafür aber meine Gewohnheiten.

Beide entfernen wir uns von unserem alten Leben. Dem Leben, indem unsere Eltern nicht tot waren.

Mit jeder Sekunde, die verstreicht und die uns dem neuen Leben näherbringt, habe ich das Gefühl mich mehr und mehr von unseren Eltern zu entfernen. Unsere Wohnung werden wir wohl nie wieder sehen. Wildfremde Menschen, haben alles aussortiert und eingepackt für uns. Die Sachen meiner Eltern entsporgt. Nur weniges, das Luis und ich unbedingt behalten wollen, wurde bereits zu den Malcoms gebracht.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt