Kapitel 26

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Ich warte am nächsten Tag an meinem Bett auf Nelli.

Zur vereinbarten Zeit betritt sie vorsichtig das Zimmer und fesselt mir die Hände.

Gemeinsam gehen wir in die Küche, wo Nelli bereits das Frühstück vorbereitet hat. Sie bindet mich los, sodass ich essen kann.

Ich sehe ihr die Anspannung an, welche ihr schon vorhin, als sie mein Zimmer betrat, ins Gesicht geschrieben stand.

Sie ist bereit, jederzeit auf einen Angriff von mir zu reagieren.

Ich versuche mich auf das Essen zu konzentrieren und die Stimme zu übertönen, die ohne Fesseln lauter schreit. Bring sie um! Immer und immer wieder. Es ist schrecklich. Allein der Gedanke daran plagt mich.

"Hast du gestern noch gelesen, wie du gesagt hattest?" Unterbricht Nelli die Stille.

"Ja, aber so wirklich interessantes habe ich bis jetzt noch nicht gelesen." Ich seufze. "Bisher hat mich das Buch enttäuscht. Ich habe all meine Hoffnung auf den Inhalt gelegt. Nichts."

"Gib nicht so schnell auf, das wird schon noch. Ich möchte trotzdem alles wissen. Du weißt, dass ich gut zwischen den Zeilen lesen kann. Es kommt immer auf die Details an, also lass bitte nichts aus."

Und so beginne ich zu erzählen. Von der ungewöhnlichen Art, in der das Tagebuch geschrieben ist. Von Ludwig und was ich bisher von seiner Familie weiß. Und von der Frau, der er auf dem Markt geholfen hatte. Nelli lauscht gespannt und ist dabei ungewöhnlich ruhig. Es ist ihr buchstäblich anzusehen, wie ihr der Kopf raucht, während sie versucht aus den Informationen schlau zu werden.

"Und der Text hat wirklich da begonnen? Du hast nichts überblättert?"

Ich schüttle den Kopf. "Nein, ich habe von Beginn an gelesen. Warum?" Irritiert sehe ich sie an, vergesse dabei fast die Stimme.

"Die Frau ... die vom Markt. Sie muss eine bedeutende Rolle spielen." Als sie meinen verwirrten Blick sieht schüttelt sie verblüfft den Kopf. "Larissa, das liegt doch auf der Hand. Der Mann hat Frau und Kinder, steht quasi mitten im Leben und sein Tagebuch startet an einen zufälligen Tag, an dem er einer fremden Frau auf dem Markt hilft? Da muss doch was sein."

"Aber er hat doch eine Frau."

"Na und? Es muss doch nicht einmal was mit einer Affäre zu tun haben. Aber ich bin mir sicher, dass da noch was kommt. Du musst unbedingt weiterlesen!" Ich nicke.

Leider teile ich Nellis Euphorie über die neuen Erkenntnisse nicht. Womöglich interpretiert sie mal wieder viel zu viel in Belangloses. Aber was bleibt mir für eine andere Möglichkeit. Wir haben nur das Tagebuch, nichts weiter.

Nelli räumt, nachdem sie mich wieder festgebunden hat, flink die Küche auf. Dann gehen wir in den Keller. Ihr Trainingsplan besteht daraus, dass ich bewusst mit den Stimmen konfrontiert bin und dagegen ankämpfen muss. Da sie die ganze Zeit in Alarmbereitschaft ist, könne ihr wohl nichts passieren. Tatsächlich glaube ich ihr. Nur zu gut kann ich mich daran erinnern, als sie mich das letzte Mal überwältigt hat.

Unten angekommen sehe ich, dass die Hanteln weg sind.

"Ich habe sie weggestellt - potentielle Waffe, naja man kann nicht sicher genug gehen. Ich würde gerne noch meinen Geburtstag feiern." Sie lacht, doch mir ist nicht danach. Viel zu sehr erinnert mich die Stimme immer wieder aufs Neue, an meine Taten. An die Gefahr, die von mir ausgeht.

Nelli bindet mich los und entfernt sich schnell ein paar Schritte von mir. Augenblicklich wird die Stimme lauter. Bring sie um! Schreit sie in Dauerschleife.

"Wie geht es?" Nelli sieht besorgt aus.

"Es tut weh, aber es ist machbar. Gerade kann ich mich ganz gut konzentrieren würde ich sagen."

Sie überlegt, verarbeitet die Information.

"Vielleicht sollten wir einmal probieren deine Konzentration noch anderweitig zu beanspruchen. Mal sehen." Ihr Ausdruck wird düster. "Bist du bereit Grenzen zu überschreiten für das Training? Das wird nicht schön."

"Alles. Alles, was nötig ist. Probieren wir es", erwidere ich. Sie nickt. Bereitet sich auf ihren Angriff vor.

"Ganz ehrlich Larissa, du bist eine schlechte Schwester."

Die Aussage trifft mich mit einer solchen Wucht, dass ich vermutlich zu Boden gefallen wäre, wenn es ein physischer Schlag gewesen wäre. Aber Nellis Plan geht auf. Mein Herz wird umschlungen von aufkeimender Wut und Trauer. Das Schlimmste ist, dass ich ihr glaube, was den Schmerz nur erhöht. Diesen emotionalen Zusammenbruch nutzt die Stimme. Sie ist so unglaublich laut, wie es in Nellis Gegenwart bisher kein einziges Mal war. Und noch bevor Nelli den nächsten Satz aussprechen kann, springe ich auf sie zu. Die Hände zu Fäusten geballt. Mein Körper der Stimme ergeben. Vollständig gefangen in ihrem Bann.

Nelli hat keine Probleme damit sich zu wehren. Mein Angriff ist keineswegs überraschend und trotz der Energie der Stimme, überragt ihre Technik und Kraft deutlich die meine - oder unsere.

Ehe ich mich versehe, hat sie mich wieder unter sich eingeklemmt, meine Hände fest an den Boden gepresst. Keine Chance da rauszukommen.

Sie gibt mir kurz Zeit mich zu sammeln, gegen meine Gefühle anzukämpfen. Mich zu beruhigen, bis ich die Stimme wieder zurückdrängen kann und die Oberhand zurückerlange. Erst als das geschafft ist, gibt sie mich frei und wir stellen uns wie zu Beginn.

Ich gebe ihr Bescheid als ich bereit bin und sie legt los.

"Deine Eltern wären enttäuscht, wenn sie dich jetzt sehen könnten. Ich denke sie sind froh, dass sie das alles nicht miterleben müssen, wie ihre Tochter ..." Weiter kommt sie nicht.

Trotzdem schafft sie es auch dieses Mal mich mühelos zu Boden zu drücken und meinen Angriff so zu unterbrechen.

Wir wiederholen das Prozedere immer und immer wieder, ohne ein wirkliches Ergebnis zu erzielen. Ich weiß zwar jedes Mal, dass Nelli es nicht so meint, dass sie das nur sagt fürs Training, aber das ist nicht das Problem.

Ich glaube es selbst. Sie spricht nur meine Gedanken laut aus und es trifft mich so stark, dass ich die Kontrolle verliere und die Stimme übernimmt.

Der einzige Lichtblick der Übung ist, dass ich mich nach und nach immer schneller wieder beruhigen kann, nachdem mich Nelli in ihrem Griff hat. Doch der Angriff bleibt.

Auch die Stärke und Intensität bleiben. Es ist immer dieser kurze Moment, indem ich so überwältigt bin, dass ich die Kontrolle verliere.

Zum Ende hin lässt sie mich dann meine Wut am Boxsack auslassen. Dafür sperrt sie mich kurz im Trainingsraum ein, damit ich auch wirklich den Sack nehmen kann und nicht auf sie losgehe.

Ich schreie den Boxsack an, prügle auf ihn ein, weine, bis ich nicht mehr kann und Nelli bitte mich rauszulassen.

Am Abend falle ich völlig fertig ins Bett. Mir fehlt die Energie zum Lesen, also lasse ich das Tagebuch unberührt auf meinem Nachttisch liegen. Ich werde einfach morgen weiter forschen. Am liebsten würde ich sofort einschlafen und meine überlasteten Nerven entspannen, aber so weit kommt es nicht. Stattdessen höre ich Luis Stimme, die mir Vorwürfe macht. Wie vor wenigen Tagen in er Küche, bevor Nelli gekommen war.

Er schreit in meinem Kopf, beschreit seinen Tod und den von Maria, die sich kurz drauf einklinkt.
Bis auch Raik dazustößt und alle drei zusammen mich mit vorwürden bewerfen.

Raik spricht außerdem noch Drohungen zwischendurch aus. Das ich in der Hölle landen werde, dass er sich an mir rächen wird, dass ich meine Strafe schon bekommen werde.

Und wieder der Spitzname, den ich so verabscheue, Veilchen.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt