Kapitel 21

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Hier lagen die Leichen. Die blonde Frau direkt neben der Kommode. Daneben ein Mädchen, dass etwa in meinem alter sein müsste und weiter hinten ein kleiner Junge.

Was ist hier passiert und warum lande ich immer wieder in diesem Haus?

Warum sind die Leichen jetzt nicht da?

Bevor ich diese Mal nach oben gehe, laufe ich die untere Etage ab. Die Küche, die Wand, an der ich die mir fremde Frau gewürgt hatte.

Weiter hinten finde ich den Garten, wo ich die zwei Kinder beobachtet hatte. Die zwei Träume haben etwas miteinander zu tun, da ist eine Verbindung. Nur welche? Was soll mir das sagen? Wieso träume ich so aktiv, so real? Ich meine ich weiß, dass ich träume. Wieso?

Ich gehe die Holztreppe nach oben, folge den Schreien wieder in das Schlafzimmer.

Da ist wieder der Mann, der in der Ecke kauert. Die Schreie gehen von ihm aus, das ist sicher. Aber sie gehören nicht nur einer Person. Da sind mehrere Stimmen, die zusammen schreien. Männer, Frauen, Kinder.

"Warum schreit ihr? Was ist euch passiert?", rufe ich den Stimmen entgegen.

Der Mann sieht auf. Er sieht überrascht aus. Ich sehe ihm direkt in die Augen.

"Wie kann ich euch helfen?" Eine Träne kullert ihm die Wange hinab. Sein Ausdruck tiefster Trauer berührt mich. Er ist mir fremd, doch ich spüre sein Leid, als ob es meines wäre. Da ist ein Gefühl der Verbundenheit, das uns umgibt.

Wer ist dieser Mann? Wieso träume ich von ihm? Warum fühlt sich das hier alles so echt an?

"Bitte", wimmert er. Ich trete näher an ihn heran, trotzdem bedacht darauf genug Abstand zwischen uns zu lassen, damit er nicht wieder seine kalten Hände an mich legen kann.

"Bitte hilf uns." Sein flehender Blick, die Tränen, welche immer mehr sein Gesicht benässen, versetzten mir einen tiefen Stich.

"Wie? Was soll ich tun?"

Er starrt in leere. "Bitte!"

"Sagt mir, wie ich euch helfen kann!"

Immer noch keine Antwort. Als ich erneut fragen will, sieht er plötzlich wieder zu mir. Sein Blick, eine Mischung aus Hoffnung und Angst.

Irgendetwas ist anders. Seine Wangen sind dreckig. Eben waren sie noch sauber, da bin ich mir sicher. Auch seine Hände sind schmutzig. Sie sind beschmiert mit Erde mit Erde und Blut. Da ist Blut an seinen Händen. Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück.

Er atmet einmal tief durch, dann schließt er seine Augen. Die Schreie werden immer lauter.

Ich sehe mich im Raum um, aber da sind immer noch nur wir beide.

Dann passiert es.

Als ich mich wieder zu ihm drehe, sitzt er nicht mehr. Sein Körper liegt zu Seite geklappt. Sein Kopf daneben. Blut, überall Blut.

Ich schrecke hoch. Die kühlen Fliesen unter meinen Händen holen mich in die Realität zurück. Der Mann. Sein Kopf. Er er war getrennt vom Körper. Was? Wie konnte?

Ich schüttle mich, versuche die Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen. Was hat dieser Traum ... nein, diese Träume zu bedeuten? Wer ist dieser Mann, wer waren diese Leichen? Wieso habe ich - im Traum - eine davon selbst ermordet? Ich kenne sie nicht einmal.

Ich sitze wieder in der Küche der Malcoms. Vor mir zwei Leichen, die dritte im Keller. Erinnerungen prasseln auf mich ein.

Eben war nur ein Traum. Jetzt bin ich wieder in der Realität. Ich, die Mörderin.

Es ist schwer zu glauben, dass mein Bruder tot ist. Ich will es auch gar nicht. Aber so ist es. Ich habe schließlich das Messer in seinen Bauch gerammt.

Ich habe keine Ahnung wie lange ich geschlafen habe. Ich stehe mühevoll auf und sehe aus dem Fenster. Ich muss lange weggewesen sein, denn die Sonne ist schon wieder dabei sich zu Verabschieden.

Langsam drehe ich mich um, sehe mein Werk. So viel Blut. Ich verstehe es immer noch nicht. Warum? Ich liebe meinen Bruder. Über wirklich alles. Trotzdem war ich es, die ihm das Leben genommen hat.

Ich setzte mich neben ihn. Er ist so blass. Ich nehme seine kalte Hand zwischen meine. Halte sie einfach.

So verweile ich, während die Sonne draußen untergeht.

Ein weiterer Tag ohne Luis Stimme, seine Lebensenergie, die für uns beide gereicht hat.

"Gute Nacht, Zwerg", flüstere ich und küsse ihn auf die Stirn. Antworten kann er nicht mehr. Ich lege mich vorsichtig neben ihn. Starre die Decke an.

Da ist noch dieses Tagebuch unter meiner Couch. Ich hatte vor es zu lesen, bevor all das passiert ist. Die Neugier begleitet mich seitdem. Steigt immer mehr.

Sollte ich hochgehen es holen? Ich will es unbedingt lesen. Erfahren, was drinsteht. Wer Ludwig Winkler war. Meine Fingerspitzen kribbeln.

Seit ich das Tagebuch unter den Regalen in der Vorratskammer hervorgezogen hatte, stehe ich unter seinem Bann. Immer wieder finden meine Gedanken zu diesem Buch, wollen darin Blätter.

Ich setze mich auf, bereit nach oben zu stürmen, dieses verdammte Buch zu holen und es auf einmal zu verschlingen.

Mein Blick fällt auf Maria, die in ihrem - mittlerweile getrocknetem - Blut liegt. Ich will mich selbst schlagen. Ich habe drei Menschen ermordet. Liege hier zwischen ihnen und denke an ein dummes Tagebuch.

Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Warum denke ich an etwas so Banales, wenn ich doch gequält von Trauer sein sollte, oder wenigstens versunken in Selbstmitleid.

Das Buch sollte keine Bedeutung für mich haben - nicht mehr. Es ist nur ein Gegenstand. Neben mir liegt mein Lieblingsmensch, der nicht mehr atmet. Hier sollten meine Gedanken sein.

Was ist aus der Larissa geworden, die ich einmal war? Die fürsorgliche Schwester. Die Larissa, die Gewalt immer gemieden hat, die ihren Bruder mit dem Leben beschützt hätte.

Es ist absurd, dass ich den letzten Punkt immer noch felsenfest so verteidigen würde, da sie im absoluten Gegensatz zu meinen Taten stehen. Aber das verstehe ich ja selbst nicht. Vielleicht ist es auch gut so. Ich weiß es nicht. Eigentlich weiß ich nichts mehr, wenn ich ehrlich bin.

Wer bin ich? Die Frage kann ich aktuell nur falsch beantworten, wenn man meine Taten und Gedanken, die ich hatte, betrachtet.

Zukunftsfragen sind mir sowieso fremd. Welche Zukunft? Ohne meinen Bruder sehe ich keine. Wenn ich es beenden könnte, hätte ich es gestern getan. Ich lebe nur noch im hier und jetzt. Warte. Worauf? Dass weiß ich nicht.

Wieder sitze ich einfach nur da. Horche in die Stille. Bin allein.

"Veilchen." Ich schrecke hoch. "Mein liebes gutes Veilchen."

Wie wie kann das sein? Raik ist tot. Ich habe es gesehen. Ich war es, der ihn ermordet hat. Er ... sein ... sein Puls hatte nicht mehr geschlagen, da war ich mir sicher. Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper aus.

"Veilchen. Mein Veilchen. Du warst böse." Seine Stimme wird tiefer.

Ich kann nicht identifizieren, woher sie kommt. Er wird mich umbringen, da bin ich mir sicher. Angst habe ich jedoch nur davor, was er vorher mit mir anstellen wird.

Ich muss mich vor ihm verstecken, muss fliehen. Ich kann nicht noch einmal seine dreckigen Hände auf meinem Körper spüren. Kann nicht erneut seinen Atem an meinem Hals fühlen. Ihn seine schmutzigen Gedanken in mein Ohr flüstern hören. Allein dieser widerwärtige Spitzname löst Panik und Unwohlsein in mir aus. Ich hatte wirklich geglaubt ich wäre ihn los. Doch nun höre ich seine Stimme klar und deutlich nach mir rufen.

"Veilchen."

Ich sehe mich hektisch in der Küche um. Suche nach einem Versteck. Nach draußen traue ich mich nicht, er kann nicht weit weg sein. Viel zu nah ist seine Stimme. Ich verkrieche mich unter den Tisch, etwas Besseres finde ich nicht, ziehe die Beine eng an den Körper, mach mich so klein es geht.

"Veilchen."

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt