Kapitel 29

8 2 2
                                    

Gefangen in den Zeilen, des verschnörkelten Textes, merke ich nicht, wie die Zeit verfliegt.

Erst das Signal, dass der Akku vollgeladen ist, lässt mich den Blick vom Papier abwenden.

Ich klappe das Buch zu, lege es bei Seite und greife nach meinem Handy. Doch dann halte ich inne. Nein, es ist spät, ich werde jetzt keine Nachrichten mehr lesen. Es ist besser, wenn ich sie mir morgen, ausgeschlafen durchlese. Jetzt könnte ich sowieso keinen anständigen Text mehr verfassen. Also lege ich es wieder weg und drehe mich zur Wand, um zu schlafen.

Nellis Plan sieht vor, nur jeden zweiten tag zu trainieren. Demnach ist heute Ruhetag und ich durfte ausschlafen. Gemütlich bleibe ich noch etwas im Bett liegen, nachdem ich aufgewacht bin. Es ist wichtig die Pause ernst zu nehmen, damit mich nicht wieder die Kraft verlässt.

Das Training wird laut Nelli nur erfolgreich sein, wenn ich nicht überlastet bin. Ich greife nach meinem Handy. Gestern Abend hatte ich es aufgeschoben meine Miteilungen zu lesen. Aber ich kann mich nicht noch länger davor drücken. Also öffne ich meine ungelesenen Nachrichten.

Wie zu erwarten war, kommen sie nur von einer Person. Ich habe weder in meinem alten Umfeld, noch in meinem neuen Freunde gehabt, einzig Nelli und Gabriel standen mir nahe. Ich würde behaupten, dass mich die meisten gar nicht kannten, wenn überhaupt als die Freundin von Gabriel.

Mit zittrigem Finger tippe ich auf seinen Chat. Er hat so viel geschrieben.

Dass er mich vermisst, er sich sorgen macht, dass er für mich da ist, egal was gerade bei mir los ist. Dutzende Fragen, ob alles okay ist, ob es mir gut geht, ob ich Hilfe brauche und so viele mehr.

Ich sitze gut eine halbe Stunde weinend da und lese einfach nur seinen Nachrichten. Lasse mich ganz von ihnen einnehmen. Ich versuche mir seine Stimme ins Gedächtnis zu rufen, seinen Duft. Ich sehe ihn vor mir, wie er lacht, sein Gesicht, wenn er sich über Nelli amüsiert, welche die eifersüchtige beste Freundin spielt. Das leuchten in seinen Augen, wenn er mich ansieht. Das Gefühl auf meiner Haut, wenn er mich mustert. All diese Erinnerungen machen es mir unglaublich schwer meinen Plan umzusetzen. Doch ich muss.

Ich brauche deine Hilfe nicht. Lass ich in Ruhe! Schreib mir nicht wieder. Es tut mir leid, bitte akzeptiere das einfach.

Für einen letzten Moment genieße ich das Gefühl einmal die Freundin gewesen zu sein. Dann klicke ich auf senden und beende es.

Ich brauche eine Weile ehe ich mich beruhigen kann.

Schließlich versuche ich mit eiskaltem Wasser die Spuren meiner Tränen zu verwischen. Nelli holt mich kurze Zeit später und wir essen gemeinsam Frühstück. Ihr Blick verrät mir, dass sie zumindest ahnt, was ich getan habe, sagt jedoch nichts. Nach dem Essen verkündet sie, dass sie die Pause für Schulaufgaben nutzen wird. Mir ist nicht danach.

"Meinst du ich könnte spazieren gehen?", frage ich vorsichtig.

"Es sollte gehen." Sie sieht nachdenklich in die Ferne. "Uns gehören große Flächen des Waldes und auch sonst ist hier eigentlich nie jemand. Ich werde hier alles abschließen, sodass du klopfen musst. Fühlst du dich denn bereit dazu? Ich denke es wird dich Kraft kosten, wenn du niemandem wehtun möchtest."

Ich nicke. "Ich bin ausgeruht. Ich denke, ich kann das."

Nelli erklärt mir anhand einer Karte, welche Gebiete ich ablaufen kann, ohne jemandem zu begegnen. Ihnen gehört wirklich fast der ganze Wald, weshalb ich mich meiner Sache sicher fühle. Ich schaffe das. Ich kann wie ein normaler Mensch im Wald spazieren, ohne dabei jemanden zu verletzen oder gar umzubringen. Ich bin stark genug der Stimme zu widerstehen.

Ich verabschiede mich von Nelli. Sie macht meine Fesseln ab, dann schließt sie sich in der Hütte ein.

Ich drehe mich einmal um die eigene Achse. Hier sind wir vor ein paar Tage angekommen. Damals war ich in einem komplett anderen Zustand als jetzt. Mehrere Tage ohne Dusche, blutbeschmiert und traumatisiert. Zumindest zwei Dinge treffen davon nicht mehr zu. Wahllos beginne ich einfach in eine Richtung zu laufen, ohne genau zu wissen wohin sie mich führen wird. Der Wald ist ruhig und friedlich. Es gibt nur das Rascheln der bunten Blätter und den sachten Herbstwind.

Während ich meinem eingeschlagenen Weg weiter folge betrachte ich die Natur um mich herum. Die unterschiedlichen Pflanzen, die alten Bäume, deren Rinde ihre Geschichte erzählt.

Nach einer ganzen Weile, in der ich nur von Bäumen und Sträuchern umgeben bin, komme ich an eine Lichtung. In der Mitte dieser entdecke ich einen kleinen See, dessen Wasser so klar ist, dass ich bis auf den Boden sehen kann. Hier möchte ich mal schwimmen gehen. Ich trete näher ans Wasser und halte meine Hand hinein. Überrascht wie warm es ist lasse ich auch die andere hineingleiten. Es ist wunderschön hier.

Ich muss mir unbedingt den Weg einprägen, damit ich ihn das nächste Mal wieder finde.

Ich genieße noch einen Moment den herrlichen Duft des Sees, bevor ich mich auf den Rückweg mache. Auch ich sollt wenigstens ein bisschen für die Schule machen. Ich mache einfach ein etwas leichteres Fach, das schnell erledigt ist, dann kann ich noch etwas lesen.

Ich folge dem Pfad, den ich auf dem Hinweg hinterlassen habe, zurück zur Hütte.

"Du hast es nicht verdient Veilchen. Du hast es nicht verdient glücklich zu sein. Dein Karma wird dich noch einholen. Sei dir sicher, du wirst Leiden."

Ich zucke zusammen. Es ist Raiks Stimme. Nach zwei Tagen Ruhe ist sie also wieder da. Vermisst habe ich ihn nicht.

Es folgen weitere Beleidigungen und Drohungen, die ich so gut es geht versuche zu ignorieren. Ich will ihm kein Gehör schenken, nicht Raik.

Das Ignorieren fällt mir jedoch schwerer, als Maries und Luis Stimme dazukommen. Ich komme immer noch nicht damit klar, wie echt sie wirken. Als würde sie direkt hinter mir stehen und ich müsste mich nur umdrehen, um sie zu sehen und in den Arm zu nehmen. Aber wenn ich mich umdrehe ist da niemand. Nur der verlassene Wald. Bäume und Sträucher, sonst nichts.

Ich beschleunige meine Schritte, um schneller zurück an der Hütte, bei Nelli zu sein und so die Stimmen loszuwerden.

Der Weg zieht sich ewig hin, dabei ist er mir gar nicht so lang vorgekommen.

Habe ich mich verlaufen? Was wenn ich nicht zurückfinde?

Mein Herzschlag normalisiert sich erst wieder, als ich die Hütte in der ferne entdecke. Ich habe mich zurückgefunden. Ein Stein fällt mir vom Herzen. Ich atme einmal tief durch, dann nähere ich mich ihr weiter. Ich darf jetzt keine Fehler machen, ich muss die Stimme beherrschen. Alles für Nellis Unversehrtheit. Es fällt mir nicht so leicht, wie ich gedacht hatte, als ich losgegangen bin. Ich bin ausgelaugt, von den anderen Stimmen, die mich nun den gesamten Rückweg mit Vorwürfen und klagenden Rufen begleitet haben. Ich kann nicht mehr.

Einen kurzen Moment kann ich aufatmen, als mich die Stimmen verlassen, kurz bevor ich dem Haus zu nah komme. Dann erscheint die Stimme. Sie will so viel, sie ist so laut.

Mit letzter Konzentration versuche ich sie in Schach zu halten, trete vor die Tür und klingle.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt