Kapitel 34

5 1 2
                                    

"Bereit?" Ich nicke. Nachdem Nelli und ich eine Weile allein geübt haben, soll nun Gabriel dazukommen.

Ich bin an die gegenüberliegende Wand gefesselt, als Nelli die Tür öffnet und er den Trainingsraum betritt.

Sofort durchströmt mich die Energie der Stimme, fokussiert mich einzig auf das Ziel - seinen Tod.

"Konzentriere dich Larissa", höre ich Nelli auf mich einreden.

Ich weiß, was sie meint. Wir hatten vorher das Aufeinandertreffen geplant. Ich soll mich auf gute Erinnerungen konzentrieren, versuchen die Stimme mit meiner zu verdrängen. Eigentlich dasselbe Prinzip, dass ich zum Beruhigen bei Nelli verwende, nur dass die Stimme bei Gabriel erheblich lauter ist.

Mein erster Versuch besteht darin, dass ich Erinnerungen von mir und Luis vor meinem inneren Auge abspiele. Doch da mischen zu viele negative Emotionen mit, welche die Stimme eher beflügeln, anstatt gegen sie zu arbeiten.

Also wechsle ich zu welchen zwischen Gabriel und mir, doch auch das funktioniert nicht. Ich schaffe es einfach nicht die Kontrolle zurückzuerlangen. Gleichzeitig verlässt mich die eigene Kraft Stück für Stück.

"Das reicht! Stopp!", schreie ich nach einem weiteren fehlgeschlagenen Versuch. Gabriel sieht mich entsetzt an, will instinktiv auf mich zugehen. Aber dann besinnt er sich und geht auf die Tür zu, lässt sich von Nelli rausbringen, sodass ich allein zurückbleibe.

Erschöpft sinke ich an der Wand zu Boden, kurz davor die Besinnung zu verlieren.

Irritiert sehe ich mich um.

Wie komme ich? Warum?

Ich bin von Feldern umgeben. Wieder ist alles verwelkt – tot. Keine Schreie. In der Ferne erblicke ich Ludwigs Heim. Ich renne darauf zu.

Doch bevor ich ankommen kann, wechseln die Felder um mich herum. Nicht nur, dass jetzt alles blüht, es ist eine andere Wegführung, als vorher.

Wo bin ich?

Panisch drehe ich mich um, versuche etwas halbwegs Bekanntes zu entdecken – mit Erfolg. Da ist wieder ein Haus. Dieses ist etwas kleiner als das von Ludwig, dennoch ist es wunderschön, wie es dort zwischen den Blumen steht.

"Larissa?"

Wie? Was macht Nelli hier?

Ich drehe mich um die eigene Achse. Nichts. Woher kommt ihre Stimme? Ich warte kurz, aber als nichts weiter passiert Nähere ich mich weiter dem Haus. An der Tür angekommen zögere ich. Es sind kleine Laute von drinnen zu vernehmen, trotzdem versuche ich so lautlos wie möglich einzutreten.

Jemand greift mich an die Schulter, rüttelt daran. Aber als ich mich erneut umsehe, ist weit und breit wieder niemand zu sehen. Irgendwas stimmt nicht. Wo bin ich?

Ich versuche die mulmigen Gedanken abzuschütteln und konzentriere mich wieder auf die Einrichtung.

Ähnlich, wie bei Ludwig, sind auch hier auf den ersten Blick nur Holzmöbel zu sehen. Als nächstes fallen mir die unzähligen getrockneten Kräuter auf, die von der Decke hinabhängen.

"Larissa!" Nelli erscheint vor mir, die Augen weit aufgerissen und mit Tränen gefüllt. Was? Sie zieht mich in ihre Arme. "Du hast mir einen unfassbaren Schrecken eingejagt. Ein Glück, dass du wieder bei dir bist."

"Es war nur ein Traum", stottre ich.

"Ja, egal was eben war, das war nicht real. Aber jetzt bist du wieder wach und ich bin hier." Sie schluchzt.

"Ich verspreche dir, das nächste Mal schreite ich eher ein, bevor es zu spät ist. Das gerade kommt nicht nochmal vor." Sie wischt sich die Wangen trocken.

"Du bist wach. Es ist alles okay", versucht sie weiter sich selbst zu beruhigen.

"Ja, alles in Ordnung. Das war seltsam eben, aber ich denke ich kann jetzt wieder Realität von Traum trennen."

"Willst du versuchen aufzustehen?" Ich nicke.

Nelli rappelt sich zuerst auf. Dann greift sie mir unter die Arme und zieht mich auf die Beine. Zunächst noch etwas wackelig stütze ich mich an der Wand, doch zwei Atemzüge später, hat sich auch das gegeben.

"Danke." Ich versuche ein paar Schritte zu gehen und bemerke erfreut, dass mich kein Schwindelgefühl mehr überkommt. Tatsächlich fühle ich mich wieder richtig fit.

"Wir könnten noch etwas zu zweit üben."

"Nein." Hält Nelli entschieden dagegen. "Das kommt nicht in Frage. Du bist eben noch zusammengeklappt. Heute provozieren wir die Stimme nicht mehr." Als ich ihren entschlossenen Blick sehe, weiß ich, dass es sinnlos wäre jetzt mit ihr zu diskutieren, also bitte ich darum noch etwas an den Boxsäcken zu trainieren. Aber auch das erlaubt sie mir nicht und so verlassen wir gemeinsam den Trainingsraum.

Nach einem kurzen Mittag lasse ich mich von Nelli vor die Tür bringen. Wenn ich schon nicht weiter üben kann, will ich wenigstens baden gehen. Also gehe ich den Pfad entlang zum glitzernden See.

Ich platziere mein Handtuch Nahe des Ufers, lege mich darauf und genieße den Ausblick, den Geruch, sowie die Geräusche, die mich hier umgeben.

Der See ist zu meinem Lieblingsplatz zwischen all dem Schrecklichen geworden. Gerade als die Sonne am höchsten steht, gleite ich ins Wasser hinein und schwimme ein paar Runden. Das Wasser ist etwas kühler als das letzte Mal, aber dennoch recht warm für den Herbst. Angenehm streicht es um meinen Körper, beruhigt jede Stelle, die es berührt. Und dann ist es wieder so weit und ich lasse mich unter Wasser gleiten in die unendliche Stille.

Der Frieden, der mich umgibt fühlt sich unglaublich rein an, ganz im Gegensatz zu der Energie der Stimme, die mich vorhin noch im Training durchflossen hat.

So wahrhaftig. So unsagbar heilsam. Ich schließe die Augen, lasse mich noch tiefer sinken, möchte für immer von diesem Gefühl umgeben sein.

Immer mehr Luft verlässt meine Lungen, aber der Schmerz in meiner Brust ist vergleichsweise klein, zu dem der mich erwartet, wenn ich auftauche. Er ist unbedeutsam klein.

Trotzdem tauche ich kurz darauf wieder auf, lasse mich von der Lautstärke der Stimmen umhauen, denn diesen Moment der Stille und des absoluten Friedens, den ich unter Wasser genießen konnte, können sie mir nicht mehr nehmen. Und irgendwann muss ich dafür nicht mehr untertauchen.

Wenn Nelli es schafft mir zu Helfen sie loszuwerden, wird mich der Frieden auch an Land wiederfinden – dessen bin ich mir sicher.

Nach einer Atempause, schwimme ich noch eine Runde, dann lege ich mich wieder auf mein Handtuch und genieße das gute Wetter. Die Sonne hebt meine Laune und ich gehe deutlich entspannter zurück zur Hütte.

Dort fesselt mich Nelli und bringt mich in die Küche wo bereits das Abendbrot vorbereitet ist.

"Wo ist Gabriel?", frage ich vorsichtig. Auch wenn ich meine Entscheidung, dass er sich von mir fernhält, für richtig erachte, habe ich dennoch ein schlechtes Gewissen ihn ständig von mir zu stoßen. Aber es muss sein, zu seiner Sicherheit. Anders geht es nun mal nicht.

"Er isst in seinem Zimmer. Ich habe ihm was gebracht." Sie nimmt einen Schluck Tee.

"Ich verstehe dich und er tut das auch. Er versteht es, auch wenn es wehtut." Ich lächle sie dankbar an. Das habe ich gebraucht. Ihre Stimme, die mir sagt, dass ich richtig entschieden habe.

"Ich werde heute weiterlesen", wechsle ich das Thema.

"Hast du bis jetzt nicht?"

Beschämt schüttle ich den Kopf. "Mir war nicht danach. Es tut mir leid. Dafür versuche ich nachher etwas mehr zu schaffen, versprochen."

Nach dem Essen bringt mich Nelli auf mein Zimmer. Direkt greife ich nach dem Tagebuch und beginne zu lesen, um mein Versprechen zu halten.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt