Kapitel 20

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Meine Hand schnellt nach vorne. Das Messer trifft seinen Bauch. Eben, wie nur wenige Minuten zuvor Marias. Ihre Leiche liegt hinter mir auf kalten Fliesen.

Auch mein Bruder sinkt auf dem Küchenboden zusammen. Ich fange ihn auf, nehme ihn in meine Arme, murmle eine Entschuldigung nach der anderen. Doch sie sind wertlos. Sie stoppen nicht die Blutung, geben ihm nicht das Leben zurück, dass ihn Stück für Stück verlässt.

Ich will nach Hilfe schreien, im die Wunde zudrücken, ihn am Leben halten. Aber wieder verrät mein Körper mich.

Also halte ich ihn nur. Sehe dem Menschen beim Sterben zu, der mir die Welt bedeutet.

"Zwerg. Es tut mir so leid", wimmere ich. Er nimmt meine Hand, drückt sie mit der Kraft, die er noch aufbringen kann. Selbst jetzt ist er noch für mich da. Seine Lider zucken. Er wird Müde.

Es geht zu schnell und trotzdem kommt mir der Moment des Sterbens ewig vor. Wie ein Kampf, bei dem ich nur Zuschauer sein darf.

Doch dann ist es so weit und Luis nimmt seinen letzten Atemzug.

Mit seinem Herz, dass aufhört zu schlagen, verschwindet auch die Stimme. Das Gefühl meines Körpers kehrt zurück. Überwältigt mich, reißt mich mit im Strom der Empfindungen. Schmerz. Trauer. Wut. Hass. Liebe. Alles fällt über mich herein, erschlägt mich. Immer noch halte ich meinen toten Bruder. Will ihn nicht loslassen und kann ihn gleichzeitig nicht mehr halten. Die Energie, die eben noch so unendlich erschien ist gänzlich verschwunden. Was bleibt ist ein großes Nichts.

Ich weiß nicht wie lange ich noch so sitze. Die Leiche meines Bruders im Arm. Starr an die gegenüberliegende Wand glotzend. Luis, Maria, Raik, die Bilder ihrer Leichen wechseln sich ab. Immer wieder habe ich das Gefühl zu ersticken. Doch ich atme noch - leider.

Erst als ich merke, dass das Blut an meinen Fingern bereits getrocknet ist, lege ich meinen Bruder möglichst sanft auf den Boden und krauche unter den Küchentisch, lehne mich an die Wand, mache mich klein, in der Hoffnung einfach zu verschwinden. Meine letzte Familie ist mit Luis gestorben, jetzt will ich ihnen folgen.

Ich kann nicht ohne ihn weiter machen.

Mein Blick fällt auf das Messer, das immer noch in Luis Bauch steckt. Soll es auch mein Leben beenden. Soll es mich zu meiner Familie bringen.

Ich krabble in seine Richtung, will mich erheben und stoße an die Tischkante.

Ich lege den mit Blut beschmierten Rührstab bei Seite. Wie ist das Blut da drangekommen?

Meine Hände wandern an die Kehle einer zierlichen Frau. Sie hat eine Platzwunde am Kopf. Blut läuft ihr über das hübsche Gesicht. Es muss ebenfalls ihres am Rührstab gewesen sein. Sie ist mir fremd, eben wie die Küche, in der wir stehen.

Die Einrichtung erinnert mich an ein Museum, in dem ich mal mit der Schulklasse war. Aber das ist lange her. Damals waren meine Eltern noch am Leben. Luis auch.

Ich drücke sie gegen die Wand, nehme ihr die Luft zum Atmen. Ihr erschrockener Blick trifft mich, aber ich weiß ja selbst nicht, was ich hier tu. Ich kenne sie ja nicht einmal.

In ihrem Kleid sieht sie auch mehr aus, wie aus längst vergangenen Zeiten erschienen.

Mit ihren dünnen Händen versucht sie sich aus dem festen Griff zu befreien. Erfolglos. Sie hat keine Chance gegen meine Kraft.

Es wundert mich, aber da ist wieder diese Energie. Gerade unter dem Küchentisch war ich noch kraftlos, wollte sterben, doch jetzt bin ich so voller Leben, das es ich beinah umhaut.

Immer fester schließen sich meine Finger um ihren Hals. Lassen nicht locker, rauben ihr das Leben.

Sie hat schon aufgehört sich zu wehren, lange kann es nicht mehr dauern. Und tatsächlich sinkt sie nur kurze Zeit später schlaff zu Boden.

Aber ich bin noch nicht fertig. Hier sind noch mehr, jede Faser meines Körpers schreit danach. Es ist seltsam, da ich mich nicht einmal an den Ort erinnern kann, an dem ich mich befinde.

Wie bin ich hierhergekommen?

Ich gehe in den Flur, mein Körper weiß wo lang, er führt mich. Ich halte inne. Ich kenne diesen Flur.

Aber woher?

Ich sehe mich genauer um, erkenne drei Leiche, die verstreut auf dem Holzboden liegen. Keinen der Drei kenne ich.

Was ist das hier?

Mein Körper lenkt mich weiter in Richtung einer Tür. Dahinter finde ich einen Garten.

Hier sind die Personen, die ich gesucht habe. Zumindest fühlt es sich so an. Auch sie kenne ich nicht.

Ein junges Mädchen übt mit einem Baby das Laufen. Augenblicklich muss ich an Luis und mich denken. So wie es mal war.

Ich wollte doch zu ihm. Ich bin doch auf dem Weg zum Messer gewesen, das noch in seinem Bauch steckte. Wieso bin ich jetzt hier?

Ich schrecke hoch. Sehe keinen Garten mehr weit und breit. Nur die mir bekannte Küche. Luis Leiche.

Mein Hinterkopf tut höllisch weh. Auch die eben noch empfundenen Energie ist wieder weg.

Ich krieche zu meinem Bruder, betrachte sein blasses Gesicht. Eine Haarsträhne, die wild absteht streiche ich vorsichtig glatt. "Es tut mir so unendlich leid Zwerg. Ich hätte besser auf dich aufpassen müssen. Ich hätte stärker sein müssen. Ich habe versagt." Ich seufze.

Maria liegt nur eine Beinlänge entfernt. Auch ihr Gesicht hat jegliche Farbe verloren. "Es tut mir leid Maria. Du warst immer für uns da. Ich wollte das nicht. All das hier." Doch ist es passiert. Nichts daran kann ich ändern, rückgängig machen.

Wieder fällt mein Blick auf das Messer. Ich drehe mich von ihm weg, als ich es herausziehe.

Sein Blut klebt daran, färbt es fast vollständig. Ich kann es kaum ansehen. Aber ich brauche es jetzt. Brauche es jetzt für mich selbst.

Vielleicht ist es Feige, mich so meiner Strafe zu entziehen. Ich habe es möglicherweise nicht verdient zu sterben.

Aber da ist dieser unbeschreibliche Schmerz, der unmöglich auszuhalten ist, dem ich entfliehen will.

Ich umschließe das Messer fester mit der Hand. Platziere es an meinem Handgelenk. Will schneiden.

Kann es nicht. Erneut spielt mein Körper gegen mich. Die Stimme erlaubt es nicht mein Leid zu beenden.

Ohne weiteres sehe ich, wie ich das Messer aus der Hand werfe.

Augenblicklich ist die Stimme auch schon wieder weg.

Fast sehnsüchtig blicke ich dem Messer hinterher, dem Frieden, der mir nicht gegönnt wird.

Als es dunkel wird, verkrieche ich mich wieder unter den Tisch, kauere mich zusammen und schließe die Augen. Allein Dank der unglaublichen Erschöpfung schlafe ich ohne weiteres ein.

Da ist wieder dieser Feldweg.

Ich höre wieder die Schreie.

Ich folge dem Weg in die gleiche Richtung, wie auch beim ersten Mal und gelange wieder zu dem Haus.

Wissend, dass das hier nur ein Traum ist, fällt es mir dieses Mal leicht, die Türschwelle zu überqueren und in den Flur einzutreten.

Da ist wieder diese altertümliche Kommode und da erkenne ich, warum mir der Flur so bekannt vorkam.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt