Kapitel 27

12 3 4
                                    

Die nächsten Tage verlaufen ähnlich. Nelli holt mich früh ab, wir essen, trainieren und schlafen. Ich mal mehr, mal weniger, aber immer schlecht. Jeden Abend quälen mich die Stimmen derer, die durch meine Hand gestorben sind. Leider sinkt damit auch meine Kraft, die ich eigentlich benötige um gegen die Stimme anzukommen.

Mittlerweile bin ich so Müde und fertig, dass mich Nelli nur noch losmachen braucht und schon werfe ich mich auf sie. Hätten wir nicht alle möglichen Waffen weggesperrt, dann wäre sie vermutlich schon Tod und ich vierfach Mörderin.

Es ist ernüchternd. Für uns beide. Nellis Plan scheint nicht so zu funktionieren, wie sie gehofft hatte. Auch sie verliert mit jedem weiteren Tag ohne Erfolg die Hoffnung, auch wenn sie versucht mich immer aufzumuntern, merke ich, dass auch sie langsam verzweifelt.

"Nelli, ich glaube wir müssen den Plan überarbeiten, oder brauchen gar einen ganz neuen." Wir sitzen in der Küche und essen. Seit vorgestern bin ich zum Frühstück nicht mehr komplett ohne Fesseln, nachdem ich Nelli mehrmals angegriffen hatte. Also esse ich mit einer Hand, die andere ist an den Stuhl gefesselt. Das hilft mir zumindest ein wenig gegen die Stimme.

"Ja, diese Stimmen habe ich bei meinem Plan überhaupt nicht bedacht. Du musst ausgeruht sein für das Training, sonst wird das nichts." Sie sieht mich mitfühlend an.

Nelli weiß, wie schlimm es für mich ist, immer wieder mit Luis Stimme konfrontiert zu werden und zu wissen, dass er wegen mir nicht mehr unter uns ist. Aber auch Raiks Stimme macht mir schwer zu fassen. Der Spitzname und seine ständigen Drohungen lassen mich immer wieder das Geschehene durchleben, das eine Mal so schlimm, dass ich mich übergeben musste.

Auch jetzt, allein beim Gedanken daran, wird mir schlecht. Ich lege das angefangene Brot bei Seite, der Appetit ist mir vergangen.

"Du hast dir eine Pause verdient. Wir trainieren heute nicht, es bringt ja eh nichts."

Ich nicke.

"Du kannst lesen. Wenn du nicht im Tagebuch lesen willst, kannst du dir auch eins aus dem Wohnzimmer nehmen, da stehen so viele, du findest schon was. Oder wir machen was für die Schule. Ich weiß, dir ist nicht danach. Ganz wie du möchtest natürlich. Ich überlege mir einen neuen Plan für morgen, oder übermorgen mal sehen. Etwas Ruhe haben wir beide verdient."

Wieder nicke ich.

"Eine Pause klingt gut. Nur eine Beschäftigung ist wichtig, sicher kommen sonst die Stimmen wieder. Ich denke ich werde mir ein Buch aussuchen."

Nellis Ausdruck wird ernster. "Da ist noch etwas, dass ich dir sagen muss Nervös spielt sie mit ihren Händen. Gabriel ..."

Ich schüttle den Kopf. "Nein."

"Larissa, hör mir zu. Er schreibt mir jeden Tag. Mehrmals."

"Nein. Nelli, ich kann nicht. Er wird es nicht verstehen. Er soll einfach meine Abweisung akzeptieren. Ich habe es beendet, so soll es bleiben. Alles andere ist zu gefährlich." Wieder schüttle ich den Kopf. Ich kann nicht von Gabriel erwartet so etwas für sich zu behalten, geschweige denn das mit zu machen. Schlimm genug, dass Nelli in allem drinsteckt. Er nicht auch noch.

"Larissa, du weißt genau, dass er nicht aufgeben wird. Er ahnt, dass etwas nicht stimmt. Willst du nicht ihn entscheiden lassen, ob er mit dem was passiert ist umgehen kann und will."

"Ich kann nicht erwarten, dass er das akzeptiert, so wie du. Das verstehe ich nicht mal. Er kann sich vielleicht nicht gegen mich wehren. Es ist besser, wenn er nichts davon weiß. Bitte, behalte es für dich und sag ihm er soll meine Abweisung einfach hinnehmen."

"Das wäre ein Fehler." Sie sieht betrübt aus.

"Also, kann ich mir jetzt ein Buch aussuchen?", wechsle ich das Thema. Ich sehe, dass Nelli meine Einstellung ganz und gar nicht gefällt doch sie belässt es dabei.

Sie räumt die Küche auf und bindet meine Hände. Danach gehen wir ins Wohnzimmer, damit ich nach einem Buch stöbern kann. Die Auswahl ist wirklich riesig. Ich arbeite mich durch die Regale, um einen groben Überblick über das Sammelsurium zu bekommen. Kein Genre fehlt und mir fällt es schwer eine Entscheidung zu treffen.

Als Nelli fast der Geduldsfaden reißt habe ich mir dann endlich zwei Bücher rausgesucht, die ich mit in mein Zimmer nehme. Nelli bindet mich los und schließt mich ein. Dann bin ich alleine. Nur ich und die Bücher. Doch nicht lange.

Bald schon höre ich die Stimmen. Ich versuche mich auf den Inhalt der Bücher zu fokussieren, aber es gelingt mir nicht. Stück für Stück breitet sich der Schmerz immer weiter in meinem Kopf aus, bis er unerträglich ist.

Irgendwann schreie ich nach Nelli und es klappt. Sobald sie die Tür öffnet sind die Stimmen weg, als wären sie nie dagewesen, wären da nicht die leichten Kopfschmerzen, die an sie erinnern.

"Was ist denn los?", fragt Nelli besorgt.

"Es sind die Stimmen. Kaum warst du weg, sind sie über mich hergefallen." Sie geht auf mich zu, bindet meine Hände und schon fällt ein weiterer Scherz von mir.

Du kannst auch mit zu mir. Ich binde dich einfach an mein Bett, dann kannst du lesen, ohne die Stimmen."

Und tatsächlich behält sie recht. Während Nelli ihre Schularbeiten macht, sitze ich auf ihrem Bett und lese. Für den Anfang habe ich mir nur einen einfachen Roman rausgesucht, um etwas zu entspannen. Es ist das erste Buch einer Trilogie und wirklich spannend, sodass ich beschließe auch die weiteren Teile zu lesen. Irgendwann zumindest. Denn eigentlich müsste ich das Tagebuch weiterlesen. Aber mir ist nicht danach, auch wenn mich alles zu ihm zieht.

Also nehme ich das zweite Buch und blättere darin herum. Es ist ein Sachbuch über Übernatürliches. Vielleicht finde ich ja etwas passendes für meine Lage. Wie auch immer.

Die Zeit vergeht und die Sonne brennt über dem Horizont.

Nelli ist fertig mit ihren Schulaufgaben und ich habe zwar das ganze Buch durgeblättert und vereinzelte Zeilen gelesen, allerdings ohne Erfolge.

Ich habe nichts gefunden, dass auch nur in die Nähe meines Problems kommt. Eine weitere Ernüchterung.

Wenigstens macht Nelli zum Abendessen Pasta, die so gut schmeckt, dass ich weinen möchte.

"Hast du schon einen Plan für morgen." Nelli nickt. "Ja, aber darüber reden wir heute nicht mehr. Nicht den Kopf zerbrechen. Es ist Ruhetag!"

"Danke. Es hat wirklich geholfen heute mal nichts zu tun. Ich bin ausgeruht. Hoffentlich kann ich nachher auch gut schlafen."

Sie grinst. "Das freut mich. Trotzdem liest du nachher im Buch, ja?"

Jetzt ist es an mir zu grinsen. Nelli hat immer alles im Blick und hat natürlich gemerkt, dass ich nur normale Bücher heute gelesen hatte, anstatt das eine.

"Das mache ich."

Ich halte mein Versprechen und nehme mir das Buch vom Nachttisch. Nachdem ich die Stelle gefunden habe, an der ich das letzte Mal gestoppt hatte, fahre ich fort.

Ludwig ging durch die Manufaktur, sah bei den letzten Arbeitsschritten zu, welche die Arbeiter für heute verrichten würden. Beobachtete. Kontrollierte sie auf ihre Richtigkeit.

Im Grunde konnten seine Kollegen ihre Handgriffe, doch nach mehreren Stunden mit immer der gleichen Tätigkeit, wurden die Augen eben Müde und Fehler entstanden, sodass er ab und zu doch den ein oder anderen korrigieren musste.

Aber anders als andere in seiner Stellung, sagte er es freundlich. Auch sah er gelegentlich über kleine Fehler hinweg, wenn sie nicht ständig passierten oder zu Arbeitsbeginn.

Er kannte die Arbeiter, sie waren ihm ganz einfach ans Herz gewachsen. Und sie brauchten das Geld für ihre Familien.

Später verabschiedete er genau diese Arbeiter und zog sich in sein Büro zurück. Dort erledigte er den letzten Papierkram, um auch in kürze Feierabend zu machen. Denn auch er wollte zu seiner Familie, nach Hause.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt