Kapitel 35

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Als ich am nächsten Tag aufwache, sehe ich mich zunächst orientierungslos um. Auf meinem Bauch liegt noch das aufgeschlagene Tagebuch. Ich hatte gestern nicht aufhören können zu lesen und muss irgendwann von der Müdigkeit übermannt worden sein.

Müde schließe ich wieder meine Augen. Bis mir wieder einfällt, was das Letzte war, das ich gelesen hatte. Wie vom Blitz getroffen springe ich auf und blättere im Buch nach der Seite, um sie erneut zu lesen.

Ludwig dachte, er hätte nie jemandem wehtun können, er hatte ihn nicht töten wollen und doch hatte er es getan. Es war als hätte er die Kontrolle über seinen Körper verloren. Er tat etwas anderes als er wolle. Aber er war es, er war der Mörder.

Gebannt blättere ich noch etwas zurück.

Ludwig wollte die Fackel bei Seite legen, aber er holte erneut aus und schlug mit der Fackel auf ihn ein.

Noch ein Stück weiter.

Ludwig wollte erleichtert aufatmen und gehen, doch jede Faser seines Körpers wollte erneut zuschlagen, auf ihn einprügeln, ihn töten.

Ich klappe das Tagebuch zu und versuche meine Gedanken zu sortieren. Er war wie ich. Ludwig hatte dasselbe durchgemacht wie ich. Daher die Träume, daher die Verbindung zum Tagebuch.

Nur warum? Woher kamen die Stimmen? Hatte der Kuss mit Luciana etwas damit zu tun?

Ich werde von einem Klopfen in meinen Gedanken unterbrochen.

"Larissa, bist du fertig?", höre ich Nelli von draußen.

"Gib mir noch einen Moment." In rekordverdächtiger Zeit mache ich mich fertig und lasse mich von Nelli zum Frühstück abholen.

"Sicher, dass du es versuchen willst?" Nelli sieht mich verunsichert an. Sie hatte vorgeschlagen, dass erstmal nur sie und ich trainieren sollten, doch ich widersprach. Ich weiß nicht woher, aber heute Morgen überkam mich das Gefühl, dass es gut wäre es nochmal zu probieren. Und dafür stehe ich nun ein.

"Ja", antworte ich selbstsicher, woraufhin Nelli nach Oben verschwindet um ihn zu holen. Währenddessen bereite ich mich innerlich auf den bevorstehenden Kampf gegen die Stimme vor, lege mir Erinnerungen und Hoffnungen zusammen, sowie das Gefühl, dass mich unter Wasser umgibt. Ich sammle all meine Kraft.

Und es funktioniert. Als er eintritt kann ich mich zurückhalten. Ich versuche nicht mich aus den Fesseln zu befreien, um ihn an die Kehle zu gehen. Nein, ich bleibe ruhig stehen, als wäre nichts, so wie es mir bei Nelli gelingt.

Hoffnung strahlt mir aus seinen Augen entgegen. Auch er bemerkt die deutliche Besserung. Am liebsten wäre ich ihm vor Freude um den Hals gesprungen, doch das wäre zu viel des Guten. Man soll das Schicksal nicht herausfordern.

Stolz grinst mir Nelli entgegen. "Wollen wir es versuchen?"

Ich nicke, bereit den nächsten Schritt zu gehen. Wieder atme ich tief ein und aus, um mich auf den schwierigeren Teil vorzubereiten. Aber auch hier können wir Erfolge verzeichnen. Als Nelli meine Fesseln löst, schaffe ich es mich kurz zurück zu halten, wenn auch nur für wenige Minuten. Aber es ist ein Fortschritt. Ein Wink in die richtige Richtung. Es gibt Hoffnung und Zuversicht.

Dann stürze ich mich auf ihn. Doch Nelli hilft ihm, mich wieder festzubinden und ich kann mich wieder beruhigen. Um das Glück nicht weiter auszureizen, beenden wir das Training ohne einen weiteren Versuch.

Ich Boxe noch ein wenig allein, dann verlasse auch ich den Raum.

Etwas hat sich verändert und ich kann noch nicht sagen was. Ich fühle mich gestärkter – unabhängig von der Energie der Stimme. Vielleicht liegt es am Tauchen, oder aber daran, dass ich mich seit letzter Nacht nicht mehr komplett allein fühle. Die Gewissheit, dass Ludwig ähnliches durchmachen musste, stärkt mich.

Ich bin also kein Einzelopfer der Stimme. Und vielleicht finde ich ja wirklich noch die Lösung in diesem Tagebuch. Diese Hoffnung halte ich ganz fest – nah bei meinem Herzen. Dort, wo sie heilen kann.

"Wow, unglaublich. Das war der absolute Hammer. Woher kam das denn. Du warst voller Zuversicht und Stärke, das war atemberaubend. Ich glaube einen derartigen Fortschritt haben wir schon lange nicht mehr gehabt. – wirklich gut. Und du weißt gar nicht, wie glücklich Gabriel erst war. Keine Ahnung, wann er das letzte Mal derartig viel geredet hat.", beginnt Nelli auf der Treppe nach Oben. "Er macht gerade Mittag. Ich wollte vorher noch mit dir reden. Ein wenig auswerten, wie du dich jetzt fühlst. Du weißt schon."

Ich lache. "Hol erstmal Luft. Mir geht es fantastisch. Ich glaube dieses Training habe ich gebraucht, als Motivation."

"Also, wenn du jetzt nicht motiviert bist, dann weiß ich auch nicht."

"Da ist so viel Motivation, das glaubst du gar nicht." Wir fläzen uns in die Sitzecke des Wohnzimmers.

"Abgesehen davon, wollte ich dir natürlich noch von meinen Fortschritten beim Lesen erzählen."

Nellis Augen weiten sich. "Oh mein Gott. Das habe ich ja vollkommen vergessen. Bist du gut vorangekommen?"

Ich nicke. "Sogar sehr gut. Ich konnte gar nicht mehr aufhören und habe solange gelesen, bis mich irgendwann der Schlaf übermannt hat."

Nelli lehnt sich etwas näher zu mir. "Ludwig litt auch darunter. Es ist das Gleiche, wie bei mir. Er hat auch die Stimme gehört. Es beginnt sogar ähnlich. Mein letzter Stand ist, dass er auf dem Weg nach Hause ist. Ich nehme an, dass er dort seine Familie umbringen wird. Das habe ich ja schon gesehen in dem einen Traum. Erinnerst du dich? Die Leichen im Flur."

"Ja, dunkel."

Die schrecklichen Bilder kommen aus meiner Erinnerung nach oben. "Es wird schwer, dass lesen zu müssen, aber es führt kein Weg daran vorbei. Vielleicht hat er eine Technik entwickelt, um der Stimme langfristig widerstehen zu können. Irgendetwas muss es da ja geben, dass hilft."

"Achso und habe ich dir vom Kuss erzählt?" In Nellis Blick, den sie immer hat, wenn es neuen Tratsch gibt, erkenne ich, dass dem nicht so ist. Also beginne ich zu erzählen. Einmal das gesamte Drama, dass sich in Lucianas Garten abgespielt hat. Aber auch ihren kläglichen Versuch, ihn doch noch für sich zu gewinnen.

"Ich bin mir unschlüssig, ob sie mir leidtun soll", lautet Nellis Fazit. Ich kichere. "Ernsthaft? Das ist dein Punkt?"

Sie zuckt mit den Schultern, sich keiner Schuld bewusst. "Ist doch so." Ich schüttle den Kopf. Sie kann einfach nicht aus ihrer Haut. Durch und durch besessen von Klatsch.

"Dir ist bewusst, dass es immer entweder die Ehefrau oder die Affäre ist."

"In Filmen, ja. Aber Elisabeth stirbt, da bin ich mir sehr sicher, sie kann es also nicht sein. Und Luciana ist ja keine richtige Affäre. Ludwig hat sie doch abgewiesen."

Nelli verschränkt die Arme vor der Brust. "Hast du denn nichts von mir gelernt? Gerade das macht sie doch so verdächtig. Sie ist die verletzte Abgewiesene. Das schreit doch nach Schuld."

Gabriels Stimme ertönt aus der Küche. Er ruft zum Essen, doch Nelli schreit nur "Gleich!" zurück.

"Die Sache ist die. Wie soll überhaupt jemand eine Stimme in den Kopf eines anderen bekommen? Das ist doch unlogisch."

Nelli hebt die Braue. "Wirklich. Das findest du seltsam. Larissa hier ist nichts normal. Da ist eine verdammte Stimme in deinem Kopf, die gleich mal deinen ganzen Körper übernimmt und mordet. Also komm mir hier nicht mit Logik und lies einfach aufmerksam weiter."

Wie immer hat Nelli recht – hier ist nichts mehr normal. Ich mein der letzte Lichtblick ist ein uraltes Tagebuch.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt