Kapitel 44

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Sprich dich frei. Finde deinen Frieden. Vergib dir selbst.

Immer wieder rufe ich mir die Worte von Madame Espoir ins Gedächtnis. Wenn man ihr glaubt erscheint die Lösung fast zu einfach.

Aber vergeben ist schwerer als man vermuten würde – vor allem sich selbst.

Natürlich habe ich versucht mich gegen die Stimme aufzulehnen, als diese meinen Körper unter Kontrolle hatte. Doch das Messer, das Marias und Luis den Tod gebracht hat, führte meine Hand.

Ich sehe die Bilder immer noch so deutlich vor mir, als wäre es eben erst passiert. Den Tag habe ich so viele Male immer wieder durchdacht, nach Fehlern gesucht – nach Auswegen, oder Anzeichen, dass das ganze doch nur ein Traum gewesen ist.

Vergeblich. Es ist passiert. Ich habe drei Menschen ermordet. Darunter den Menschen, der mir der Liebste war.

Wie kann ich mir das vergeben?

"Larissa?" Nelli betritt zögerlich den Raum. "Wie geht es dir?"

Die beiden haben mich mit meinen Gedanken allein gelassen. Die gesamte Rückfahrt hatte ich keinen Laut von mir gegeben. Aber auch zurück in der Hütte war ich immer noch Gefangen zwischen Erinnerungen und Gegenwärtigem.

"Ich weiß nicht."

Nelli setzt sich zu mir aufs Bett, nimmt meine Hand zwischen ihre. "Es ist okay sich zu verzeihen. Es ist schwer, aber du musst die Schuld loslassen. Und das nicht nur um Deinet Willen. Wenn Madame Espoir recht hat – und das glaube ich – dann befreist du damit alle gequälten Seelen. Du tust das also auch für Luis, Maria und die Winklers."

Ich schüttle den Kopf. "Ich kann nicht. Wenn ich die Schuld ablege, dann heißt das, dass ich den Mord an meinem Bruder ohne Reue begangen habe. Diesen Schmerz könnte ich nicht ertragen."

Nelli wischt mir die Wangen trocken. "Das ist Unsinn Larissa. Aber das wirst du noch erkennen. Ich denke, es ist wie Madame Espoir gesagt hat: Du bist stärker als du denkst." Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange, dann verlässt sie das Zimmer.

Nach weiteren Stunden ohne ein brauchbares Ergebnis beschließe ich an den See zu gehen. Jener Ort, der mir schon einmal Frieden Geschenkt hat.

Ich mache es mir im Gras, wenige Schritte entfernt von See, gemütlich. Das Tagebuch lege ich neben mich.

Als Luciana den Fluch gesprochen hat, hatte es um das Buch geglitzert. Es ist also sehr Wahrscheinlich essentiell für die Befreiung der Seelen.

Aber so weit bin ich noch nicht. Noch quälen sich die Seelen, noch hat niemand Frieden gefunden.

Die Verantwortung lastet schwer auf meinen Schultern. Wäre die Lösung mein Tod, wäre es nicht einmal halb so schwer. Doch mir selbst verzeihen erscheint mir als gar unlösbare Aufgabe.

Aber Madame Espoir war sehr deutlich – der Tod bedeutet keinen Frieden. Den Frieden muss ich davor finden, muss in Einklang mit mir selbst kommen.

Es klingt so simpel. Ich muss mir nur vergeben, nur verzeihen, dass ich meinen Bruder ermordet habe.

Luis, meine Lebensfreude in Person. Man könnte sagen mit ihm habe ich einen Teil von mir selbst in den Tod geschickt. Es kann nicht wieder alles gut werden. Ich sehe keinen Frieden. Nirgends.

Ein Rascheln lässt mich aufschrecken. Es ist Gabriel, der aus dem Wald hervortritt. Ich wende meinen Blick wieder ab und betrachte weiter die Baumkronen, die gegen den leichten Wind ankämpfen. Schweigend setzt er sich neben mich – tut es mir gleich.

Nach einer Weile in tiefster Stille lehne ich mich an seine Schulter, genieße seine Wärme. Ich warte auf das Ausbrechen der Stimme, doch sie bleibt leise schimpfend in der Ecke – ich behalte die Kontrolle.

"Ich wollte dich nicht stören. Ich möchte aber auch für dich da sein", flüstert er in den Wind. Ich nicke gegen seine Schulter. "Es ist schön, dass du hier bist." Er küsst meine Stirn, dann schweigen wir wieder.

"Isa, du weißt, dass Nelli und ich keine Sekunde an deiner Unschuld gezweifelt haben. Ich hoffe, dass du irgendwann dich so sehen kannst, wie wir dich sehen." Er seufzt. "Wir brauchen dich."

Ich weiß, was er damit sagen möchte. Nelli und er haben es beide gespürt. Ich wäre fast zu gerne in den Tod gegangen, wenn ich das als die Lösung vor ihnen hätte auslegen können.

"Es tut mir leid." Gabriel schüttelt den Kopf. "Das muss es nicht. Wirklich."

Vorsichtig zieht er mich auf seinen Schoß. Erstaunlicher Weise bleibt die Stimme wo sie ist. Ich nutze den ruhigen Moment und lege meine Lippen auf seine. Überrascht erwidert er den Kuss.

Immer gieriger versuchen wir uns näher zu kommen, die Welt um uns herum, all die Sorgen, all die Problem zu vergessen. Nur wir beide.

Wir werden von er Stimme unterbrochen. Mit letzter Kraft stoße ich Gabriel von mir. "Ich denke, es ist besser, wenn du gehst." Wie oft er diesen Satz nun schon hören musste, will ich nicht zählen.

"Sie ...", grummelt er und ich nicke.

Ich bleibe alleine zurück. Versuche mich zu konzentrieren, die Stimme zurück in ihre Ecke zu drängen. Ich versuche verschiedene Atemtechniken, die Nelli mir im Training gezeigt hat.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, wird es endlich ruhiger. Zurück bleibt das leise Säuseln der Stimme und die alt bekannten Kopfschmerzen, die mich jedes Mal nach ihren Ausbrüchen begleiten.

Es ist zu normal geworden, zu selbstverständlich. Die Stimme hat sich längst in meinen Alltag integriert, so als gehöre sie dazu, als sei sie ein Teil von mir. Wieder kommen mir Tränen. Ich hasse es. Die Stimme hat mir alles genommen. Der Fluch hat so viel Leid über mich, über Ludwig, über unsere Opfer gebracht.

Alles wegen einer abgewiesenen Hexe und ihrem Teufel von Gott. Sie hat den Mann, den sie angeblich liebte, lieber sterben lassen, anstatt sich für sein Glück zu freuen. Wegen ihr musste eine so reine, herzensgute Familie sterben. Wegen ihr leide auch ich.

Niemand sieht das Leid. Das waren Ludwigs letzte Gedanken.

Er hat recht. Durch seine, sowie durch meine Hand sind Menschen gestorben, Menschen die wir geliebt haben. Aber wir leiden auch. Wir sind auch Opfer der Stimme, Opfer des Fluches. Ludwig war kein Täter. Dessen war ich mir auch immer sicher. Ihn sehe ich, wie Nelli und Gabriel mich sehen.

Ich bin kein Täter. Ich bin eben so ein Opfer wie Ludwig, Elisabeth, Maria und Luis.

Ich bin nicht der Mörder. Es war die Stimme. Sie hatte die Kontrolle über meinen Körper. Sie hat das Messer geführt, das meinem Zwerg das Leben genommen hat.

Sie hat auch Ludwigs Hand geführt. Sie ist der Täter. Und wir alle sind ihre Opfer. Die Schuld liegt nicht bei mir. Das einzige Vergehen, welches ich begangen habe ist, dass ich zu schwach war. Ich war zu schwach um gegen sie anzukommen, zu schwach sie aufzuhalten.

Doch ich habe nicht nur zugesehen, ich habe gekämpft, mit all meiner Kraft, habe alles getan um stärker zu werden und das bin ich nun.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt