Kapitel 06

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"Da gibt es diese Sache, die dir nicht gefallen wird." Nelli hackt sich bei mir unter, während wir den Flur entlanglaufen.

"Aber dir bleibt keine andere Wahl, denn ich habe bereits für uns beide zugesagt, also ist es beschlossen."

"Was ist beschlossen?", ich bleibe stehen. "Was hast du gemacht?"

"Nur die Einladung im Namen von uns beiden angenommen." Sie will weitergehen, doch ich halte sie zurück.

"Welche Einladung?"

Sie seufzt. "Ich weiß, dass Partys nicht so dein Ding sind, aber als ..."

"Nein", falle ich ihr ins Wort und gehe weiter. Keine Partys, nicht hier, nicht mit diesen Leuten. Was Nelli am ersten Tag zu mir meinte, über die Einstellung der Schüler hier und deren Eltern, hatte ich in den letzten Wochen am eigenen Leib erfahren dürfen.

Sie halten sich tatsächlich für eine bessere Gesellschaft, für Erhaben. Dabei sind die meisten oberflächlich und spießig, leben nur in diesem Viertel und kennen nichts anderes, schauen nicht über ihre Mauern hinaus, interessieren sich für niemanden außer sich selbst.

Abgesehen davon, dass ich hier nur das Pflegekind bin, sind meine Pflegeeltern auch noch zugezogene, die es ebenfalls schwer haben, hier akzeptiert zu werden.

Mir war es recht früh aufgefallen, dass die meisten Freundinnen von Maria aus der Innenstadt kommen, während sie bei Elterntreffen meiner Mitschüler stets ausgeschlossen wird. Sie wird einfach ignoriert.

Umso mehr bewundert es mich, dass ich überhaupt eine Einladung erhalten habe.

"Warte doch mal." Jetzt ist es Nelli, die mich zurückhält. "Also, es ist die jährliche Herbstparty von Chloe. Sie lädt jedes Jahr alle aus unserem Jahrgang, so wie den Jahrgang über und unter uns ein."

"Aber ..."

"Warte, bevor du wieder nein sagts. Das ist das erste Mal, dass ich nicht alleine dort hinmuss. Du kannst nicht nein sagen, oder willst du, dass ich schon wieder niemanden da habe?" Sie zieht einen Schmollmund. "Bitte, bitte, bitte!"

"Na gut. Aber ich hasse dich dafür, dass du mir das antust." Sie springt mir um den Hals und kreischt.

"Nelli", zische ich und schiebe sie von mir, als andere Schüler schon komisch schauen.

Marias Reaktion fällt ähnlich aus. Vor Freude springt sie einmal im Kreis herum und verkündet danach, dass sie sich immer eine Tochter gewünscht hatte, um ein Kleid zu kaufen.

Meinen Protest, dass ich kein Kleid brauche, ignoriert sie geflissentlich. Und so muss ich einen gar endlos erscheinenden Shoppingtrip über mich ergehen lassen, bei dem Maria mehrmals den Tränen nahe ist.

Die Wahl fällt am Ende auf ein gelbes Cocktailkleid mit V-Ausschnitt. Dazu hatte mir Maria vorhin die langen braunen Haare gelockt und ein wenig Make-up aufgetragen.

"Schau dich im Spiegel an", fordert sie mich auf und sieht schon wieder so aus, als müsste sie jeden Moment losweinen.

Zögerlich trete ich vor den Spiegel und auch mir kommen die Tränen. So einen Moment hatte ich mir immer mit meiner Mutter einmal ersehnt und in diesem Augenblick wünsche ich mir nichts sehnlicher, als meine Eltern bei mir zu haben. Ich wünschte sie könnten mich jetzt so sehen. Traurig lächle ich meinem eigenen Spiegelbild zu. Das Kleid sitzt gut und obwohl ich es nicht für möglich gehalten hatte, fühle ich mich wohl darin, finde mich hübsch.

"Danke", flüstere ich und nehme Maria in den Arm, die mich fest an sich drückt.

Luis verabschiedet sich mit einem Kuss auf die Wange und betont wiederholt, dass er die schönste Schwester der Welt habe. Maria stimmt ihm lachend zu, nimmt ihn dann aber mit in die Küche zum Abendessen.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt