Kapitel 16

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Am Montag verlasse ich als Erste das Haus, um keine Sekunde allein mit Raik zu verbringen. Ich verstecke mich zwischen zwei Mülltonnen und warte auf Nelli. Durch mein frühes Aufbrechen heute noch länger als sonst, sodass ich beinah einschlafe.

"Ähm Larissa Was machst du da?", höre ich sie und schrecke hoch.

"Nichts, nichts." Ich rapple mich auf und streiche meine Klamotten glatt. "Ich war heute eher fertig und konnte nicht so lange im Stehen warten."

Beschämt sieht Nelli zu Boden. "Es tut mir leid.", nuschelt sie.

"Ach was, alles halb so wild. Los komm, wir gehen." Ich hake mich bei ihr ein und wir spazieren los zur Schule.

Am Tor treffen wir auf Gabriel, der bereits auf uns gewartet hat. "Hey." Er zieht mich zu sich. Ungewollt versteife ich. Gabriel sieht mich irritiert an, schweigt jedoch und gibt mich frei. Seine Nähe fehlt mir sofort, gleichzeitig kann ich wieder freier atmen. Ich versuche das mulmige Gefühl abzuschütteln und folge Gabriel in den Unterrichtsraum.

"Wie war dein Wochenende?", fragt Gabriel, als wir sitzen. Ich verdränge die Erinnerungen an Raik und seine Hände an den falschen Stellen und beschränke mich bei meinen Erzählungen auf den Mädelsabend.

"Und war ich auch Thema?" Er stößt mir scherzhaft in die Seite. Ich verdrehe die Augen. "Es dreht sich nicht immer alles um euch Typen", sage ich empört - wohlwissend, dass er zumindest dieses Mal richtig mit seiner Vermutung liegt.

Wir scherzen noch ein wenig rum, bevor Frau Lauer den Raum betritt. Es fällt mir schwer mich zu konzentrieren. Immer wieder schweifen meine Gedanken zum seltsamen Moment vor der Schule. Ich habe mich zuvor noch nie unwohl gefühlt bei Gabriels Berührungen.

Dieses Mal jedoch hat es mich in diesen Augenblick in meinem Zimmer zurückversetzt. Unwohlsein hatte sich breit gemacht. Mir war wieder schlecht geworden, ähnlich wie gestern, als Raiks Finger meinen Körper erkundet hatten.

Gabriel legt seine Hand auf mein zappelndes Knie, schenkt mir wieder seinen besorgten Blick. Er weiß, dass etwas nicht stimmt. Ich zwinge mir ein Lächeln auf, in der Hoffnung ihn so zu beruhigen, sehe wieder nach vorne und versuche dem Unterricht zu folgen. Aber meine Gedanken schweifen wieder ab. Dieses Mal jedoch zu meinem seltsamen Traum.

Nachdem ich völlig außer Atem aufgewacht war, konnte ich nur schwer wieder einschlafen. Außerdem weiß ich nach wie vor nicht, wie ich diesen Traum einordnen soll. Und dann ist da noch das Tagebuch. Seitdem ich es gefunden hatte, habe ich das seltsame Bedürfnis es zu lesen. Leider bin ich bis jetzt nicht dazu gekommen. Ich nehme mir aber vor darin zu stöbern sobald ich zu Hause bin.

Völlig in Gedanken versunken, verfliegt der Unterricht im nu und ich laufe mit Gabriel in die Cafeteria.

"Was ist heute los? Ist alles in Ordnung?", fragt er, nachdem ich ein weiteres Mal zusammenzucke, als er seinen Arm um mich legen will. Ich verfluche mich innerlich dafür. Und antworte nur mit einem knappen. "Klar."

Unter falschem Vorwand schicke ich ihn bei betreten der Cafeteria weg, sodass Nelli und ich allein Mittag essen.

Sie scheint das nicht weiter zu stören, im Gegenteil. "Oh Gott sei Dank, Mittagessen ohne Gefummel vor der Nase." Als ich sie geschockt ansehe, lacht sie nur. "Ach komm schon, das war nur ein Witz." Gierig stürzt sie sich über ihr Essen.

"Wie hat Luis das Physikmuseum gefallen?", fragt sie zwischen zwei Bissen. Bei der Erinnerung an Luis, wie er ganz aufgeregt mir jedes kleinste Detail des Ausflugs erzählt hat muss ich schmunzeln. Ich gebe Nelli soweit ich mich erinnern kann jedes Detail wieder. Gebannt hört sie mir zu. Ich weiß, dass sie alles in sich aufsaugt, wie ein Schwamm und ihrem gedanklichen Steckbrief von Luis hinzufügt. Sicher könnte sie jedes einzelne Wort wiedergeben, wenn man sie danach fragen würde.

Ich bin immer wieder beeindruckt, wie viel sich meine Freundin merkt. Sie ist zwar nur eine eher durchschnittliche Schülerin, aber Klatsch und Tratsch merkt sie sich bis ins kleinste Detail genau und in einem so beeindruckenden Umfang, dass ich immer wieder nur staunen kann.

"Süß der Kleine." Ist ihr Fazit, als ich fertig bin. Ich nicke. "Ja, es war so niedlich, als er mir ganz aufgeregt von allem erzählt hat."

"Das kann ich mir richtig Bildlich vorstellen. Dein Bruder erzählt mit seinem ganzen Körper, das habe ich ja auch erleben dürfen letzten Samstag. Er nimmt einen total mit, wenn er erzählt. Ich liebe das!"

"Ja, ich auch. Er kann einen immer aufmuntern." Selbst nachdem Raik beinahe seine schmutzigen Gedanken an mir ausgelebt hätte, füge ich in Gedanken hinzu. Selbst da konnte er mir einen kurzen Moment der Freude, eine Ablenkung schenken. Ich streiche meine Klamotten glatt und überkreuze die Beine, so als könnte ich seine Berührungen damit wegwischen. Die Gedanken daran verdrängen, welche sich in meine Erinnerungen gebrannt haben.

"Ich muss mal kurz für kleine Mädchen. Wir sehen uns im Raum", sage ich zu Nelli. Meine Stimme zittert leicht.

"Äh okay, bis dann." Sie wirft mir einen Luftkuss zu und widmet sich wieder ihrem Essen.

Schnell verlasse ich die Cafeteria und die vielen Stimmen, die sich in einem Strudel des Lärms hinter mir zu Bündeln scheinen. Meine Sicht verschwimmt. Ich ergreife die Türklinke zu den Damentoiletten, wie eine Rettungsleine und verkrieche mich in die hinterste Kabine.

Dort sinke ich zu Boden, halte mir die Hand vor den Mund, um mein Schluchzen zu ersticken, lasse den Tränen freien Lauf. Vor meinen Augen spielen sich die Szenen mit Raik in Dauerschleife ab. Immer wieder sind da seine Hände, die meine Brüste halten und zwischen meine Beine fahren. Ich höre seine Stimme, die immer wieder Veilchen ruft. Ich spüre wieder seine Erektion, die sich gegen meinen Körper drückt.

Augenblicklich stoße ich auf. Ich lehne mich über die Kloschüssel und leere meinen Magen. Doch selbst als er restlos Leer ist, ist die Übelkeit nicht vergangen.

Ich lehne mich zurück an die kalten Fliesen und versuche meine Atmung zu beruhigen. Mit etwas Klopapier wische ich mir die Kotze vom Mund und spüle es mit meinem restlichen Mageninhalt die Toilette hinunter.

Ich schließe meine Augen, versuche mir schöne Bilder in den Kopf zu rufen, welche mich von diesem ekligen Gefühl ablenken sollen. Aber so einfach ist das nicht. Immer noch höre ich seine dreckige Stimme, die diesen elenden Spitznamen ruft, Veilchen. Immer noch fühle ich seine Hände überall auf meinem Körper. Immer noch spüre ich diese panische Angst.

Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, bis ich mich wieder beruhigt habe. Ich wasche mich notdürftig am Waschbecken, übe kurz ein falsches Lächeln im Spiegel, dann verlasse ich die Toiletten.

"Da bist du ja. Geht es dir gut?" Ich zucke zusammen. Gabriel lehnt neben der Tür.

"Hast du mich erschreckt." Ich fass mir ans Herz und versuche meine Atmung zu regulieren – schon wieder. Als ich seinen besorgten Blick sehe, setzte ich mein eben geübtes Lächeln auf. "Ja. Alles gut."

"Isa, ich sehe das was nicht stimmt. Rede mit mir, okay?" Ich schüttle den Kopf. "Es gibt nichts zu reden. Es ist alles in bester Ordnung." Ich sehe auf die Uhr im Flur, ich bin deutlich zu spät zu Frau Maibachs Unterricht. "Außerdem, solltest du nicht im Unterricht sein?"

"Du lenkst ab. Isa, du kannst mir alles sagen." Er geht einen Schritt auf mich zu, doch ich weiche zurück. "Da ist nichts, wie ich schon sagte. Ich muss los." Ich drehe mich auf der Stelle um und gehe.

Bei Frau Maibach entschuldige ich mich kurz fürs zu spät kommen und verkrümle mich zu Nelli auf meinen Platz. "Ist alles gut? Du hast so lange gebraucht." Sie zeigt mir, was ich verpasst habe und wo wir gerade im Stoff sind. Schnell öffne ich meinen Hefter und beginne mein Versäumnis nachzuholen. "Nichts, alles gut. Ich habe nur meine Periode unerwartet bekommen", lüge ich und setzte wieder das geübte Lachen auf. Anders als bei Gabriel scheint es dieses Mal jedoch zu funktionieren.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt