Kapitel 22

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„Geh verdammt noch mal von mir runter!" Ich kämpfte vergeblich gegen die feste Umklammerung meiner Handgelenke an, die der Italiener mühelos mit einer Hand auf den Boden drückte. „Du sollst mich trainieren, nicht auf mir liegen."

„Wäre dir jemand anders lieber?", hauchte er mir ins Ohr. Dieser Mistkerl. Der bekam gleich eine Lektion. Ich wand mich wie eine Schlange, biss ihm in den Arm. „Lina, das ist nicht fair." Michaele sprang auf, rieb sich die schmerzende Stelle. „Ich glaube, ich brauche eine Tetanusimpfung. Ragazza hier hat sicher die Tollwut."

„Wenn, dann hat sie die von deinem Bruder bekommen", mischte Sam sich von der Seite ein. Er saß gemütlich auf einer Turnbank, während sein Freund mich im Training folterte. Ich schüttelte den Kopf. Nein, Folter war es nicht. Die hatte ich unfreiwillig kennengelernt. Nur so oft, wie ich auf der harten Matte landete, die den noch härteren Hallenboden bedeckte, fiel das hier eher unter Fallen und Aufstehen als unter ein Sportprogramm.

„Zum letzten Mal, zwischen Raffaele und mir läuft nichts." Ich stand auf, wischte den unsichtbaren Staub von der Kleidung. „Ich nehme mal an, das Training ist damit beendet." Einen letzten Blick auf die beiden Jungen werfend, die sich vor Lachen auf dem Boden kugelten, verließ ich die Trainingshalle. Vor dieser blieb ich einen Moment stehen und atmete die kühle Morgenluft ein. Um diese Uhrzeit war es herrlich friedlich auf dem Gelände. Zugegebenermaßen war dies dem Einsatz geschuldet, zu dem Raffa mit einigen Männern mitten in der Nacht aufgebrochen war, und der das Training an seinen Bruder delegiert hatte.

„Buongiorno Caralina. Du solltest nicht zu lange hier draußen stehenbleiben. Sonst kühlst du zu sehr aus." Einer der Wachleute, ein Mann Ende zwanzig, legte mir seine Hand zwischen die Schulterblätter und drückte mich vorwärts, Richtung Haupthaus.

„Dafür, dass du mir bei unserem ersten Aufeinandertreffen eins übergezogen hast, bist du jetzt erstaunlich um mein Wohl besorgt", stichelte ich und drehte mich um. Romano senkte betroffen den Blick. Harte Schale, weicher Kern traf auf den großen, breitschultrigen Mann zu wie auf kaum jemanden, den ich kannte. Sowie ich mich frei auf dem Gelände bewegte, war er fast schon zu mir gestürmt, um sich für den Schlag zu entschuldigen. Kein Wunder, dass er von seinem Boss zu meinem persönlichen Bodyguard ernannt wurde, der mir nicht von der Seite wich, wenn Raffa unterwegs war.

„Hätte ich gewusst, dass ich ein Kind bewusstlos schlage, hätte ich es nicht getan. Das weißt du." Er richtete seine haselnussbraunen Augen betrübt auf mich. In Momenten wie diesen wirkte er nicht wie ein gefährlicher Mafioso, mehr wie ein älterer Bruder, der versäumt hatte, auf seine kleine Schwester aufzupassen, und sich riesige Vorwürfe machte.

„Caralina!" Alerio winkte mir von der Tür zu seinem Haus zu. Lächelnd verabschiedete ich mich von Romano und lief zu meinem Ziehvater. In der kurzen Zeit, in der ich hier frei herumlief, war er mir ein besserer Vater, als der zweite Ehemann meiner Mutter mir je gewesen war. Schmunzelnd schlang er seine Arme um mich, drückte mich kurz. „Was hältst du davon, wenn wir nachher einkaufen gehen?"

„Darf ich das überhaupt?" Es wäre das erste Mal, seit dem abendlichen Ausflug mit Raffaele vor knapp zwei Wochen, dass jemand mich mitnahm. Fast schon automatisch setzte ich den Welpenblick ein.

„Natürlich, sonst würde ich es dir nicht vorschlagen, la mia figlia." Er lächelte mir offen zu. „Doch jetzt solltest du dich für das Frühstück fertigmachen. Ich hole dich danach ab. Wir haben eine Überraschung für dich." Ich nickte, lief nachdenklich zum Haupthaus. Alerio war seit einigen Tagen dazu übergegangen, mich als seine Tochter zu bezeichnen. Annetta, seine Frau, ebenfalls. Sie gaben mir immer mehr das Gefühl, tatsächlich ihr Kind zu sein. Wenn ich dagegen an meine alte Familie dachte; nein, es lagen Welten dazwischen. Selbst der Don sprach freundlich mit mir, behandelte mich wie ein langjähriges Familienmitglied. Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken. Ob ich jemals in der Lage sein würde, Raffaeles und Michaeles Vater zu vergeben? Er scheute weder Kosten noch Mühen, damit ich mich hier wohlfühlte. Dennoch verspürte ich jedes Mal, wenn er nur in meine Nähe kam, den Drang, Hals über Kopf die Flucht zu ergreifen. Seinen Feinden erging es da wohl kaum anders. Ich flitzte die Treppe hoch, wich dabei einem der Wachleute aus, die regelmäßige Kontrollen im Haus durchführten.

„Buongiorno Caralina", rief er mir in seinem tiefen Bariton hinterher.

„Buongiorno Vicente", grüßte ich höflich. Der Mafioso war im gleichen Alter wie Romano. Er war es, der mir im Folterkeller die Träger meines BHs zurück auf die Schultern geschoben hatte und es bitter bereute, dass er mich nicht stattdessen befreit hatte. Je besser ich die Angestellten des Mafiabosses kennenlernte, desto mehr verwirrten sie mich. Einerseits waren sie dem Don treu ergeben, andererseits hatten sie ein starkes Gerechtigkeitsgefühl, wenn es um unschuldige Personen wie mich ging. Ich lief nachdenklich weiter, verschwand in meinem Zimmer, um vor dem Frühstück zu duschen. Ob Raffa dann bereits zurück war?

„Alerio hat mich unterrichtet, dass er mit dir und Annetta heute in die Stadt fährt." Raffaeles Vater legte seine Serviette zur Seite und sah mich eindringlich an. „Du wirst dich etwas vermummen müssen, damit niemand dich erkennt. Deine Eltern haben dich zwar nach wie vor nicht als vermisst gemeldet, was mich doch sehr wundert, aber deine Schule hat sich gestern bei der Polizei in Toledo gemeldet, wie mir eine zuverlässige Quelle berichtet hat." Ich schluckte den letzten Bissen Obst hinunter, starrte stumm auf die leere Schüssel. Der Don lieferte mir einen neuen Beweis, dass ich meiner eigenen Familie völlig egal war. Hatten sie mich je geliebt? Tränen rollten mir über die Wangen.

„Dass du alter Esel es auch nie lernst." Seine Frau stand auf, lief zu mir und zog mich vom Stuhl hoch. Bevor ich mich versah, drückte sie mich bereits an ihre Brust, streichelte mir sanft über das Haar. „Deine leiblichen Eltern verdienen nicht so einen Engel wie dich, Caralina. Du bist jetzt unser kleines Mädchen, du brauchst solchen Abschaum nicht." Es war, als wenn ihre Worte eine schwere Last von meinen Schultern nahmen. Ich richtete mich aus der gebeugten Haltung auf, rang mir ein kümmerliches Lächeln ab.

„Mille grazie." Ich vergrub das Gesicht an ihrem Hals, ließ den Tränen freien Lauf. Jemand schob seinen Stuhl zurück, schwere Schritte näherten sich uns. Die Person berührte mit einer großen warmen Hand die Stelle zwischen meinen Schulterblättern.

„Mi amore, lässt du Caralina bitte los?" Die tiefe Stimme des Dons ließ mich zusammenzucken. Ich wandte mich ab, damit er nicht in mein verheultes Gesicht sah.

„Sieh mich bitte an." Der Unterton verriet mir, dass er wie üblich keine Widerworte duldete. Ich wischte mit dem Ärmel über meine nassen Wangen, dann fasste ich allen Mut zusammen und drehte mich zu ihm um. „Nach dem Besuch in der Stadt kommst du zu mir. Es wird Zeit, dass ich einen Teil deines Trainings übernehme." Allein der Gedanke, unter seiner Aufsicht zu stehen, verursachte mir Übelkeit. Ich machte auf dem Absatz kehrt, rannte zur Toilette, wo ich das Frühstück erbrach.

„Und du bist sicher, dass du nichts mit Raffa hast?" Mick half mir auf, stützte mich vor dem Waschbecken.

„Ich habe nichts mit deinem Bruder und schwanger bin ich auch nicht", murmelte ich.

„Dann hast du sicher auch nichts dagegen, wenn ich Annetta sage, dass sie vorsichtshalber einen Schwangerschaftstest für dich kaufen soll, oder?", hauchte er mir ins Ohr. Mistkerl. Ich rammte dem Italiener meinen Ellenbogen in den Bauch.

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Der Don will also einen Teil ihres Trainings übernehmen. Was haltet ihr davon?

Verdammte MafiosiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt