Kapitel 55

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Ein Knall, der die Mauer erschüttern ließ, schreckte mich auf. Ich schlug die Fingernägel in die Matratze, von der ich fast gestürzt war, und lauschte. Einen Augenblick blieb es still. Hatte ich nur geträumt? Enttäuscht rollte ich mich wieder zusammen. Seit dem letzten Aufeinandertreffen mit Carmen, in dem sie mir verdeutlicht hatte, dass ich mit meinem Sturkopf jegliche Chance auf die Wiedererlangung der Freiheit verspielte, hatte ich mehrfach mit der Hoffnung gespielt, dass jemand zu meiner Rettung auftauchte. Ein Hirngespinst. Womöglich fand man in einigen Jahrzehnten ein paar Knochen von mir, falls die Spanier nicht auf die Idee kamen, meine Leiche in einem Fass mit Säure aufzulösen. Gedanken, die mich stets öfter überfielen, seitdem ich nur einmal am Tag etwas zu trinken und zu essen bekam.

Ein Ploppen. Wieder und immer wieder. Es dauerte einen Moment, bis mir dämmerte, was ich hörte. Schüsse, gedämpft von Mauerwerk und Beton, die mich umschlossen, gefangen hielten. Hatten die Santori den Aufenthaltsort dieser Verbrecher gefunden? Griffen sie an, um mich zu befreien?

Der Kampfeslärm schien näherzukommen. Oder bildete ich es mir nur ein, in der Hoffnung, dieses Loch schnellstmöglich zu verlassen? Ich schwang mich vom Bett, starrte wie hypnotisiert auf die Tür. Erneute Schüsse - lauter als zuvor. Hastige Schritte, die sich näherten. Jemand schloss auf, stürzte in meine Kellerzelle. Ich erstarrte. Nicht die Rettung, die ich erwartet hatte.

Das schüttere Haar stand ihm zu Berge. An der Schulter klebte ihm das Hemd, rot von seinem Blut. Er hob den rechten Arm. Der Lauf einer Waffe zeigte geradewegs auf meine Brust. Eisige Kälte kroch mir in die Glieder, lähmte mich noch mehr.

„Sag auf Wiedersehen, kleine Schlampe." Fernando drückte ab, ein leises Klicken ertönte. Ich hielt die Luft an. Er versuchte es ein zweites Mal. Nichts. Meine Chancen stiegen. Ich linste an ihm vorbei. Wo blieben meine Retter?

„Dann halt auf die althergebrachte Art", knurrte der Spanier. Seine Pistole warf er weg. Ihr Schlittern auf dem Boden lenkte mich einen Augenblick ab. Als ich wieder zu dem Mann sah, stürmte er auf mich zu, mit ausgestreckten Armen. Ich wich nach hinten, fiel rücklings auf das Bett. Schon war er über mir, seine Hände schlossen sich um meinen Hals.

„Die Italiener bekommen dich nur tot zurück", zischte er. Brutal drückte er zu, schnürte mir den Atem ab. Ich holte aus, schlug auf seine Wunde. Fernando stöhnte, ließ ein wenig locker. Schnell zog ich das Kinn zur Brust, nahm ihm damit etwas Angriffsfläche.

„Schlampe." Er drückte erneut mit aller Kraft zu. Trotz meines verzweifelten Versuchs, meine Kehle vor ihm zu schützen, spürte ich, wie seine Daumen die empfindliche Stelle an meinem Hals trafen, etwas oberhalb vom Brustbein. Sie gruben sich tiefer. Ich würgte und schnappte gleichzeitig nach Luft. Wenn nicht bald Hilfe eintraf, sah es düster für mich aus. Ich drückte gegen seinen Brustkorb, versuchte, ihn von mir zu stoßen. Mein Herzschlag pochte laut in meinen Ohren, übertönte jeglichen Kampfeslärm, falls er nicht verstummt war. Wieso half mir niemand?

Ich gab es auf, ihn wegzudrücken, schlug ihm stattdessen mit der Handkante gegen die Kehle. Zeitgleich brachte ich ein Knie zwischen uns, um ihn auszuhebeln. Fernando ließ los, holte aus. Seine Faust traf mich an der Schläfe. Ein stechender Schmerz zog durch meine linke Gesichtshälfte. Ich happte nach Luft. Der Spanier nutzte den Moment, seine Finger krallten sich eisern um meinen Hals, wie die Klauen eines Raubvogels. Meine Lungen brannten, schrien nach Sauerstoff. Die Welt um mich herum verschwamm, meine Arme wurden schwer, verweigerten die Gegenwehr. Ich schloss die Augen, gab resignierend auf.

Abrupt brach der Druck auf meine Kehle ab. Der Mann über mir sackte wie eine Marionette in sich zusammen, begrub mich unter seinem Körper. Ich blinzelte. Was war passiert? Im nächsten Moment verschwand das Gewicht. Meine Lungen füllten sich begierig mit Sauerstoff.

Ein dunkles Gesicht, erst noch verschwommen, tauchte über mir auf. Eine schwarze Lederjacke, ein ebenso tiefschwarzer langer geflochtener Zopf, der zwischen uns baumelte. Mühsam richtete ich mich auf, nahm die Umgebung langsam wieder schärfer wahr.

„Kannst du aufstehen?" Eine tiefe angenehme Stimme, die ich irgendwo mal gehört hatte. Ich ergriff die mir entgegengestreckte Hand, ließ mich vom Bett hochziehen. Ein ohrenbetäubendes Klingeln, das sich nur in meinem Kopf abzuspielen schien. „Komm Caralina, ich bringe dich hier raus." Widerstandslos ließ ich mich von dem Mann zur Tür führen. Wer war er? Woher kannte er mich? Wann und wo hatte ich ihn zuvor getroffen? Mein Gedächtnis verweigerte die Mitarbeit. Wie durch Watte drangen Geräusche zu mir durch. Schüsse, Flüche auf Italienisch und Spanisch, ein einzelner markerschütternder Schrei.

„Gib uns Deckung", rief der hochgewachsene Mann einem anderen Typen zu, der sofort zu uns aufschloss. Ich stolperte über etwas, schaute auf meine Füße. Ein Kerl, ich glaubte, in ihm den Spanier wiederzuerkennen, der mich nach dem ersten Aufwachen in der Zelle verletzt hatte. Seine glasigen Augen waren auf die Kellerdecke gerichtet, ein dunkelroter Fleck in seinem Bauch. „Komm weiter, Caralina." Stumm folgte ich. Mein Hals schmerzte, meine Knie zitterten bei jedem Schritt. Ich stolperte erneut, fiel fast auf die Kellertreppe. „Jason, trag sie. Ich übernehme die Sicherung."

„In Ordnung, Michael." Der Name rief Erinnerungen wach. Doch woran? Ich verlor den Boden unter den Füßen, krallte mich an den Mann, den der andere Jason nannte. Sie huschten die Treppe hoch. Im Erdgeschoss lagen noch mehr Leichen. Ich schloss die Lider, drückte mein Gesicht gegen die Männerschulter. Weg, bloß weg hier. Vereinzelte Schüsse, auch vor dem Gebäude. Der Wind spielte mit meinen Haaren. Die Hoffnung, ihn noch einmal zu spüren, hatte ich vor Tagen aufgegeben. Dunkelheit, eine Sitzbank. Eine Schiebetür knallte zu. Ein Motor, der aufheulte. Hoffentlich brachte er uns an einen sicheren Ort.

„Was machen wir mit ihr? Die Santori vermissen sie." Ich zuckte bei Jasons Worten zusammen. Tränen wallten in meinen Augen auf. Unfähig zu sprechen, wimmerte ich leise.

„In dem Zustand können wir sie nicht zu ihnen schicken. Sie würden sie in ihrer Villa einsperren und nie wieder rauslassen, ihr jedes Recht auf Selbstbestimmung nehmen." Michael verstummte. „Ihr müsst die Schnauze halten, dann verstecke ich sie ein paar Tage in einem Schlupfloch von Gina, damit sie zur Ruhe kommen kann. Was hältst du davon, Caralina?" Er drückte sanft meine Hand. Ich wandte mich ihm zu, nickte dem engsten Vertrauten von Gina Calieri zu. Nicht meine Familie hatte mich gerettet, sondern die Gruppe der toughen Italienerin.

„Du willst mit ihr vorläufig hier in Chicago bleiben? Ich werde Massimo davon in Kenntnis setzen."

„Das wirst du nicht." Michael zog seine Waffe, richtete sie auf unseren Begleiter. „Er hat damals Gina angekettet, damit sie nicht vor ihrer Familie abhaut. Ich traue ihm zu, dass er die Kleine den Santori mit einer Schleife um den Bauch überreicht, wenn er weiß, wo sie sich aufhält." Ich schüttelte vehement den Kopf, schaute den Indianer flehend an. Raffa durfte mich in diesem Zustand auf gar keinen Fall sehen, sonst würde ich wirklich nie wieder einen Schritt in Freiheit setzen.

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So, jetzt dürften einige Leute ruhiger schlafen.

Sorry, kein Raffaele, der zur Rettung eilte. Der hätte unsere Kleine nur aus Sorge eingesperrt.

Verdammte MafiosiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt