Kapitel 58

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„Bitte sage mir, dass das nicht dein Ernst ist." Ich schaute abwechselnd zu Michael und dann den Pfad entlang, der wie eine regungslose Schlange, die einzig auf Beute wartete, vor uns lag. Erst päppelte er mich einige Tage auf, dann erwartete er von mir, dass ich diesen Trail hinauf latschte? Sein Vertrauen in seine Fähigkeiten als Wunderheiler war enorm, wenn er annahm, dass ich den Weg schaffte. Hielt er sich für einen Schamanen, der alle negative Energie mit dem Wedeln eines Räucherstäbchens mühelos vertrieb? Ich schnaubte genervt.

„Oh doch, wir werden zum Black Elk Peak hinaufwandern. Ob es dir gefällt oder nicht." Der Indianer schulterte dein Trailrucksack, den er in der früh für uns beide gepackt hatte. Sein Freund Leroy, der uns begleitete, wuchte sich den zweiten Rucksack auf den Rücken. Zu meiner Erleichterung brauchte ich nichts zu schleppen. Eher einer der beiden Männer mich auf dem Rückweg, denn ich würde mit Sicherheit schlappmachen.

„Das schaffst du schon, Caralina." Leroy sah mich aufmunternd an. „Wenigstens ist sie nicht so gefährlich wie Gina, die uns allerlei Tode gewünscht hat." Hatte sie das? Ich verengte die Augen, sah zu meinem anderen Begleiter.

„Zičá war zu dem Zeitpunkt eine ausgebildete Killerin. Hätte sie es darauf angelegt, gäbe es uns beide seit dem Tag nicht mehr." Michael schmunzelte, dann wies er zum Trail. „Nach dir, Caralina. Die Aussicht von oben wird dir gefallen."

Das bezweifelte ich. Wieso hatte er mich hierhergeschleppt? Wir waren am Vortag angereist, übernachteten bei seinem Freund, der mir Anekdoten aus seinem Aufeinandertreffen mit Gina berichtete. Von ihm hatte ich erfahren, dass sie sich einige Zeit vor ihrer Familie im Reservat versteckt gehalten hatte. Nachvollziehbar, denn damals war von dem Respekt, den die Italiener ihren Ehefrauen entgegenbrachten, wenig zu merken. Erst durch ihr Verschwinden und die Drohung der anderen Frauen, ebenfalls ihre Ehemänner zu verlassen, hatte es ein Umdenken gegeben. Die Information und einige andere Dinge, die beide Lakota mir verrieten, beschäftigten mich bei dem stundenlangen Marsch den Berg hinauf.

„Pause", rief Michael. Ich hielt abrupt an. Meine Oberschenkel zitterten und ich spürte deutlich jede Muskelfaser in meinem Hintern. Die nächsten Tage würde mein Aufpasser mich tragen dürfen. „Hier, trink und iss etwas." Nickend nahm ich ihm Flasche und Sandwich ab.

„Wie weit noch?" Ich erwartete, dass wir erst auf der Hälfte der Strecke waren. Der letzte Zwischenstopp lag nicht weit genug zurück, dass wir mehr Kilometer hinter uns gebracht hatten. Auf die Armbanduhr hatte ich nicht geschaut, doch erzählte mir mein Körper auch so, dass wir seit Stunden unterwegs waren. Der Schweiß lief mir stetig den Nacken hinab und meine Füße fühlten sich aufgequollen an.

„Circa dreiviertel haben wir hinter uns. Ich bin mir sicher, dass du es auch so bis nach oben geschafft hättest. Doch es ist besser, wenn du regelmäßig trinkst. Denn nach unten müssen wir heute auch noch." Sehr beruhigend, dass er nicht plante, mitten auf einem Berg zu übernachten. Gedankenverloren knabberte ich am Sandwich. Wenig später liefen wir weiter. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto größer die Ruhe, die mich überkam. Es schien, als ob all meine Sorgen am Fuße des Berges zurückgeblieben waren.

„Da wären wir." Michael trat an meine Seite, machte mit der Hand eine weitreichende Bewegung. Ich atmete tief durch. Der Wald lag unter uns. In der Ferne zog sich ein Fluss wie eine silberne Schlange durch die Natur. Schroffer grauer Felsen blitzte zwischen dem Grün hervor. Eine Wildheit, die mich in ihren Bann zog.

„Es ist wunderschön", murmelte ich. Für mehr fehlten mir die Worte.

„Und du hast den Weg aus eigener Kraft geschafft." Der Mann schaute mich anerkennend an. Meine Wangen brannten.

„Ja, hat sie. Wir haben auch nichts anderes erwartet." Leroy klopfte mir auf die Schulter, entfernte sich dann einige Schritte von uns. Gedankenverloren schien er ins Tal zu starren. Zu wissen, dass das gesamte Land einst nur seinen Vorfahren gehörte, stellte ich mir hart vor. Was waren schon meine Probleme gegen die Traumatisierung ganzer Generationen? Kälte schlich sich in mein Herz, erstickte das Feuer, das dort schwach glühte.

„Es tut mir leid", flüsterte ich. Tränen rannen über mein Gesicht, brannten auf der Haut. „Ich bin nutzlos, schwach."

„Das bist du nicht." Michael zog mich in eine Umarmung. Schluchzend klammerte ich mich an ihn. Wieso war ich nur so unfähig, meinen eigenen Weg zu gehen, und lief anderen immer vor die Füße?

„Doch, ich bin schwach." Meine Stimme brach, wie zum Beweis meiner Inkompetenz.

„Wakiŋyan Čikala Win!" Die Worte hallten wie Donner über das Land. Ich zog den Kopf ein, bereitete mich auf ein Gewitter vor. „Kleine Donnerfrau, du bist weitaus stärker, als du es dir eingestehen magst. Viele andere Frauen wären längst an dem Erlebten zerbrochen, doch du kämpfst weiter. In dir wohnt eine Kraft, die nur selten vorkommt."

„Aber ich laufe immer vor allem weg", schluchzte ich.

„Ist das so falsch? Manchmal benötigt man Abstand, um Dinge wieder klarer zu sehen. Nehmen wir Gina als Beispiel. Erst ist sie allein auf einen Rachefeldzug gegangen, ohne ihre Familie in irgendetwas einzuweihen. Dann, als man ihr die Leitung über Ilimitada wegnehmen wollte, hat sie sich im Reservat versteckt. Sie wollte nicht zurück nach Philadelphia, sondern ihr Leben in Ruhe führen. Einzig die Sorge, dass die Familie zerbrechen könnte, brachte sie zum Umdenken." Er schüttelte traurig den Kopf. „Sie wollte mit mir zusammen abhauen. Mit mir zusammen Angelo großziehen, weil sie auf ihren Ehemann wütend war und die Bevormundungen durch die anderen Männer satthatte. Seit ihrer Rückkehr hat sich bei den Pensatori vieles geändert. Die Frauen werden in die Geschäfte einbezogen, wenn sie es wünschen. Die übliche Rollenverteilung ist Geschichte."

„Aber sie hatte dich. Ich habe niemanden bei den Santori, der mich unterstützt." Ich wischte die Tränen weg. So etwas wie Gina durchzuziehen, schaffte ich nicht.

„Bist du dir da so sicher?" Michael sah mir tief in die Augen. Sein Blick hatte etwas Hypnotisierendes. „Was ist mit deinem Vater, Alerio? Was mit dem Bruder deines Verlobten und dessen Freund? Meinst du, die würden dich im Stich lassen?" Das würden sie nicht. Der Gedanke an die drei jagte mir Messerstiche ins Herz. Ich wandte mich ab, lief zu Leroy. Wie er starrte ich in die Ferne, als ob dort die Antwort lag.

„Wakiŋyan Čikala Win, kleine Donnerfrau, es ist nicht schlimm, an sich zu zweifeln. Nur leiten solltest du dich nicht davon lassen." Der Mann berührte sanft meine Schulter. „Schließe die Augen, lass die Gedanken frei. Lausche dem Wind, seinem Gesang." Leroys Worten Folge leistend verbannte ich alle Zweifel. Ein Windhauch streichelte meine glühenden Wangen. Die beiden Indianer stimmten leise ein Lied in ihrer Sprache an. Eine Weile stand ich mit geschlossenen Lidern da, lauschte ihnen und dem Wind. Die Antwort lag vor mir. Abrupt öffnete ich die Augen, drehte mich zu Michael um.

„Bring mich zu ihnen."

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Und dafür musste er sie auf den Berg schleppen? Arme Lina.

Oder war die Erfahrung etwas, die sie benötigte?

Verdammte MafiosiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt