Kapitel 35

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Raffaele stieß wie ein Rachegott die Tür zu meinem Zimmer auf. Sein eiskalter Blick, dem eines lauernden Raubtieres gleich, fand mich lustlos auf dem Bett liegend. Der Ort, an dem ich neuerdings den größten Teil des Tages verbrachte. Falls Sam und Mick nicht gerade mit mir trainierten. Der Rest der Familie kümmerte sich um die eigenen Angelegenheiten. Die Gespräche über die geplante Hochzeit waren verstummt. Wozu sollten sie auch weiterplanen? Nach dem jetzigen Stand würde sie nie stattfinden. Ich schaute zum Schwarzhaarigen, der mich mit verschränkten Armen finster betrachtete. Worauf wartete er? Eine Einladung?

„Aufstehen. Folgen!" Mein einstiger Freund drehte sich um, lehnte sich an den Türrahmen. Aktion kalte Schulter. Ich schüttelte milde lächelnd den Kopf. Zu oft hatte mich sein Verhalten in den vergangenen Wochen verletzt, als dass es mich jetzt überraschte. Ich folgte ihm die Treppenstufen hinunter zur massiven Haustür und sah stirnrunzelnd zu, wie er einen Autoschlüssel packte. Was hatte der Italiener vor? Hoffnung keimte in mir auf, wie die ersten Grashalme nach einem verheerenden Brand. Plante er, mit mir an den Strand zu fahren, sich mit mir auszusprechen? Gehorsam und ohne Zeit zu vertrödeln, stieg ich in seinen Wagen ein. Stumm steuerte Raffaele das Fahrzeug vom Gelände des Anwesens. Statt den altbekannten Weg einzuschlagen, nahm er eine andere Abfahrt. Der Silberstreifen an meinem Horizont verblasste zusehends. Er fuhr nicht zum Meer, sondern in Richtung Stadt.

„Wohin fahren wir?" Womöglich zog er es vor, mit mir in einem Café zu reden. Welchen Grund hatte er sonst?

„Das siehst du, wenn wir dort sind", erwiderte er kühl. Ich drehte den Kopf zu ihm, beobachtete, wie seine Kiefermuskeln spannten. Heute war ihm eine riesige Laus über die Leber gelaufen. Hatte ich ihm einen Grund für dieses miesepetrige Verhalten geliefert? Angestrengt überlegte ich, doch kam zu keinem Ergebnis. Resignierend lehnte ich die Schläfe ans Fenster, erhaschte dabei einen Blick auf ein Straßenschild. Union Station stand dort angegeben. Zehn Kilometer bis zum Bahnhof. An den umliegenden Straßen hatten sich unterschiedliche mexikanische Restaurants niedergelassen. Gingen wir etwa auswärts essen? Zur Versöhnung? Mein Herz hüpfte vor freudiger Erregung. Endlich hatte der Kalte Krieg ein Ende. Womöglich war er nur so wortkarg, damit er nichts von der Überraschung verriet. Lächelnd verbrachte ich die restliche Autofahrt neben Raffaele, der ab und an einen Blick zu mir warf. Zu gern würde ich erfahren, was in seinem Kopf vorging, doch ich wagte es nicht, den Italiener weiter zu löchern. Routiniert bog er auf einen von hohen Palmen gesäumten Parkplatz ab und parkte den Wagen.

„Steig aus", befahl er in einem monotonen Tonfall, der mir das Lächeln aus dem Gesicht wischte. Ich folgte widerwillig seiner Aufforderung, betrachtete dann stirnrunzelnd das langgestreckte weiße Gebäude, vor dem wir standen. Der viereckige Turm auf der rechten Seite verriet mir, wo wir uns aufhielten - Union Station. Der Bahnhof von Los Angeles lag vor uns. Das war mit Sicherheit nicht unser Zielort. „Komm mit." Raffa ließ mich stehen, lief genau auf das Bauwerk zu. Ohne einen Hinweis auf das Warum blieb mir nichts anderes übrig, als ihm gehorsam zu folgen. Er führte mich durch die Bahnhofshalle zu einem Schalter von Amtrak, dem Betreiber vieler Züge. Ich schluckte schwer. Also doch. Ich schlang die Arme um meinen sachte zitternden Körper. Raffa ignorierte mich völlig, unterhielt sich dafür gelassen mit einem Bahnmitarbeiter, der ihm einen Koffer reichte. Zu klein für zwei Personen. Ich sprach mir innerlich Mut zu. Vielleicht schenkte der Italiener mir einen Trip, damit ich Abstand von den Geschehnissen bekam. Doch eine Stimme in meinem Kopf flüsterte mir etwas anderes zu.

„Du willst mich loswerden." Es kam mir viel einfacher als erwartet über die Lippen. Die Distanziertheit, sein ganzes Verhalten ließen nur diesen einen Schluss zu. Er liebte mich nicht mehr, wünschte sich, dass ich verschwand. Alles nur wegen der Fehlgeburt? „Es ist nicht meine Schuld, dass ich unser Baby verloren habe." Was erwartete ich? Dass er auf die Worte einging? Wahrscheinlich. Ich sehnte mich doch nur nach meinem liebevollen Freund, statt diesem wortkargen, gefühlskalten Mann, der mich von sich stieß, als ob ich ihm nie etwas bedeutet hatte.

„Du bist nicht für das Leben in meiner Familie geeignet", entgegnete er kühl. „Es ist besser für alle Beteiligten, wenn du uns verlässt." Er zog einen dicken Umschlag aus der Jackentasche, zerrte mich in eine ruhige Ecke. Die Reisenden passierten uns zu hektisch, als dass auch nur einer sich die Zeit nehmen würde, unser Gespräch zu belauschen. „Hier drin sind dein alter und ein neuer Pass, dazu ein Schlüssel mit einer Adresse und ein Bankpass mit den Daten zu dem dazugehörigen Konto. Da ich annehme, dass du nicht zu den Menschen zurückkehren möchtest, die dich verraten haben, habe ich dir eine Wohnung organisiert. Beende die Highschool. Mach eine Ausbildung oder studiere. Ich werde dir regelmäßig Geld überweisen, damit du nicht nebenher arbeiten brauchst. Baue dir ein neues Leben auf." Er drückte mir den Umschlag in die Hand, schob mich zu einer Treppe. „Dein Zug fährt in zehn Minuten ab. Trödele nicht herum. Vergiss uns einfach. Du weißt, was dir blüht, wenn du es wagst, zur Polizei zu gehen." Ich nickte, sprachlos von seinem gefühllos vorgetragenen Monolog. Es gab so vieles, das ich ihm an den Kopf werfen wollte, für sein mieses Verhalten. Ich wollte ihn anschreien, ihn schlagen, ihn anflehen, mich bleiben zu lassen. Doch der Zug schien abgefahren. Daher tat ich das einzig Richtige. Ich nahm ihm den Koffer ab, stieg die Stufen zu meinem neuen Leben hinauf. Ich hatte in den vergangenen Wochen genug Tränen seinetwegen vergossen, doch er würde mich jetzt nicht weinen sehen, dieser verdammte Mistkerl.

Einige Stunden später kam ich mit verquollenen Augen an dem Gebäude an, zu der mich die Adresse aus dem Umschlag führte. Meine Finger zitterten. Immer wieder verfehlte ich das Schloss, schrammte mit dem Schlüssel daran vorbei.

„Hey Kleine. Brauchst du Hilfe?" Eine Frau um die Dreißig betrachtete mich abschätzend von der Seite. Ihre blonden Haare hochgesteckt, das Gesicht übertrieben geschminkt, kaugummikauend. Gekleidet in einem Alptraum in Pink. Das Spiegelbild eines Stereotyps. Doch ihre Ausstrahlung war freundlich. „Lass mich raten, du hast Liebeskummer." Ich nickte nur, traute meiner Stimme nicht. „Lass mich dir einen Rat geben. Kein Kerl ist es wert, seinetwegen Tränen zu vergießen. Wenn einer dich nicht liebt, wie du bist, wird es ein anderer tun. Ich bin übrigens Candy. Wenn du mich brauchst, ich wohne gegenüber." Sie nahm mir den Wohnungsschlüssel ab, schloss für mich die Wohnungstür auf. Aufmunternd klopfte sie mir auf den Rücken, überließ mich dann dem Schicksal. Ich seufzte, straffte die Schultern. Was erwartete mich in meinem neuen Zuhause?

Verdammte MafiosiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt