Zwei Stunden später stand ich in einer Boutique, die von einer resoluten Französin geführt wurde. Sie und Annetta redeten wild gestikulierend auf Alerio ein, der die Arme vor der Brust verschränkte.
„Nein, das ist mein letztes Wort. Caralina möchte kein kurzes Kleid, also nehmen wir das Lange." Seine Haltung bestätigte meine Meinung, dass er ein tausendfach besserer Vater war als mein Stiefvater. Mehrfach hatte ich mich bereits bei dem Gedanken erwischt, wie mein Leben als leibliche Tochter der beiden Italiener verlaufen wäre. Liebevoller als jenes, welches ich kannte, auf jeden Fall. Andererseits wäre ich mit Mafiatätigkeiten aufgewachsen. Mit der ständigen Angst, ein Elternteil zu verlieren. Denn meine Ziehmutter hatte ebenfalls an Missionen teilgenommen, so wie ihr leibliches Kind. Giorgina. Sie war bei einem Einsatz ums Leben gekommen. Laut Alerio, weil sie Raffa zu imponieren versuchte, der sie wie eine Schwester behandelte. Sie war vor ihrem Tod nicht seine Freundin, wie ich befürchtet hatte.
Ich strich das knöchellange Kleid glatt, drehte mich halb vor dem Spiegel. Der Stoff schmiegte sich sanft an, ohne zu viel zu verraten. Ob ich ihm so gefiel? Nachdenklich betrachtete ich mein Spiegelbild. Nein, bloß keine falschen Hoffnungen. Ich war nicht sein Typ, wie er mir oft eingetrichtert hatte. Vor allem in der ersten Zeit, nachdem er mich aus dem Keller befreit hatte. Andererseits, seitdem ich offiziell auf dem Anwesen verblieb, hatte er nichts dergleichen mehr geäußert. Ich schloss die Augen, holte mir den Abend am Meer ins Gedächtnis. Seine starken Arme um meinen Körper. Die Wärme, die von ihm ausging. Das Rauschen der Wellen. Raffas geduldige Erklärungen. So neu und so anziehend sein Verhalten in dem Moment. Ein Seufzer entfloh mir.
„Es steht dir, la mia figlia." Mein Blick fiel wieder auf den Spiegel. Alerio stand hinter mir, betrachtete zufrieden das Kleid im Spiegelbild. „Raffaele sollte bei dem Treffen gut auf dich Acht geben, damit dich keiner klaut. Du siehst hinreißend aus." Er zog das Haargummi aus meinen Haaren, wuschelte sie ein wenig durcheinander, sodass sie mir nach vorne über die Schultern fielen. „Magnifica." Ich schluckte schwer. Was hatte er da gerade gesagt?
„Was für ein Treffen?" Ich suchte in seinen dunklen Augen nach einer Antwort. Verschmitzt lächelte der Italiener.
„Der Don ist mit seiner Familie zu einer Hochzeit in San Francisco eingeladen. Bei Don Lucius Genovese. Sein jüngerer Bruder Stefano heiratet. Wir versuchen momentan, stabile Geschäftsbeziehungen zu ihnen aufzubauen. Daher ist es wichtig, dass alle Familienmitglieder einen tadellosen Eindruck hinterlassen." Wie bitte was? Stocksteif starrte ich auf mein Spiegelbild. Ein Mädchen mit panisch aufgerissenen Augen sah mir entgegen.
„Das geht doch nicht", stammelte ich. „Was, wenn mich jemand erkennt?" Verstieß das nicht gegen sämtliche Regeln? Ich sollte mich doch bedeckt halten.
„Unser Don hat mich spezifisch darum gebeten, dir ein Kleid für die Feier zu kaufen, in dem du dich wohl fühlst." Er fummelte an einer meiner Haarsträhnen herum. „Ich werde Annetta fragen, ob sie dir Locken macht. Andererseits," er wickelte sich die Strähne um den Zeigefinger, „sanfte Wellen würden besser zu dir passen." Alerio ließ mich sprachlos zurück, wanderte durch den Laden zu seiner Ehefrau. Ich hastete in die Umkleide, streifte mir mit zitternden Händen das Kleid vom Körper.
Wenig später reichte ich das Kleidungsstück meinem Ziehvater, der damit zufrieden Richtung Kasse lief. Einige Blusen, Röcke und Hosen warteten dort bereits in großen Tüten darauf, aus dem Geschäft getragen zu werden. Vieles hatte Annetta ausgesucht, anderes dagegen Alerio. Mein persönlicher Favorit war der schwarze Hosenanzug, der dem Stil der Zwanziger Jahre nachempfunden war. Jetzt benötigte ich nur einen typischen Mafiahut, um mich erfolgreich als Mafiagirl zu verkleiden. Im Auto auf der Rückfahrt dachte ich über die bevorstehende Feier nach. Ich, an Raffaeles Seite, auf der Hochzeit eines fremden Mafioso. Kalte Schauer rannen mir über den Rücken. Die sich nach der Ankunft auf dem Anwesen nur verschlimmerten.
„Halte den Bogen locker. Es geht nur darum, dass er dir nicht aus der Hand fällt. Handgelenk gerade halten. Dann kippt dir der Bogen beim Schuss nicht weg." Der hatte leicht reden. Ich schnaubte in mich hinein. Raffaeles Vater kontrollierte weiter meine Haltung, trat hinter mich. „Schultern nach unten. Stehen sie hoch, kannst du keine richtige Rückenspannung aufbauen." Energisch drückte er sie runter. Ich zuckte zusammen, ließ den Bogen sinken.
„Das lerne ich nie. Ich bin zu dumm dafür." Tränen wallten in meinen Augen auf. Mutlos warf ich einen Blick auf die Zielscheibe. Kein einziger Pfeil hatte sie getroffen. Alle lagen weit herum verstreut.
„Du bist nicht dumm, sondern hast Angst." Der Don packte mein Handgelenk, führte den Arm mit dem Bogen wieder hoch. „Vor mir und davor, zu versagen. Doch das ist nichts Neues in deinem Leben, nicht wahr?" Er trat näher heran, bis sein Brustkorb meinen Rücken berührte. Mit einer Hand stützte er meinen Unterarm, die andere ruhte auf meiner Hüfte. Mühsam unterdrückte ich ein Zittern. Verdammt, wo war nur Raffa? Er würde es nicht zulassen, dass sein Vater mich so quälte. Er wusste, wie sehr ich die Nähe des Mannes hasste, der mich gefoltert hatte. „Konzentriere dich nur auf die Scheibe. Dein Stiefvater war es, der dich von klein an wie das fünfte Rad am Wagen behandelt hat, habe ich recht? Ein Stück lebendiges Inventar, das man in ein dunkles Zimmer sperrte", hauchte er mir ins Ohr. Etwas in meinem tiefsten Innern zerbrach in Millionen von Splittern. Ein Gesicht erschien vor mir. Es war seine Schuld. Hätte er mich nicht zu dem Pädophilen geschickt, wäre ich nie in einem Folterkeller der Mafia gelandet. Voller Hass für den Mann, der mir alles eingebrockt hatte, zog ich die Sehne zurück, spannte den Bogen. In einer fließenden Bewegung ließ ich los, sah dem Pfeil hinterher, der sich in die Zielscheibe bohrte. Weit außen, aber getroffen.
„Siehst du, Bambina. Du kannst es." Der Don ließ mich los, umrundete mich mit einem, wie mir schien, respektvollen Abstand. Dennoch unterdrückte ich nur mit Mühe ein Wimmern. Den Blick zum Boden gewandt hoffte ich, dass er das Training für heute beendete. „Sieh mich an, ragazza." Widerwillig gehorchte ich. Eisblaue Augen, die mich nachdenklich musterten. „Ich weiß, dass ich einen Großteil deiner Angst verursache. Daher ist es so wichtig, dass du den Unterricht bei mir ernst nimmst. Bogenschießen ist nicht nur ein Sport. Es ist auch eine Art Meditation. Indem ich dich trainiere, zwinge ich dich dazu, dass du dich deiner Angst stellst. Du musst, ob es dir gefällt oder nicht, meine Anwesenheit akzeptieren und dich gleichzeitig auf das Schießen konzentrieren." Er hob den Arm, strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Du bist klug, wirst es lernen. Je mehr du dich mit der Furcht vor mir auseinandersetzt, desto stärker wirst du." Der Don wandte sich ab, starrte ins Nichts. „Ich kann, wie gesagt, nicht ungeschehen machen, was ich dir angetan habe. Doch ich kann dir helfen, daran zu wachsen."
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Soso, der Jüngere der Genoveses heiratet. Wer könnte sich denn alles auf der Hochzeitsfeier herumtreiben? Naaaaaaa.
War dies von Anfang an geplant? Nö. Keine Ahnung, welcher Teufel mich da geritten hat. Jetzt müsst Ihr es ausbaden. 😈
Ach, was haltet Ihr denn momentan von unserem Don?
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Verdammte Mafiosi
ActionNeugier ist der Katze Tod, sagen sie. Für Dakota dagegen eine Möglichkeit, Schlimmerem zu entgehen. Panisch flüchtet sie vor dem Mann, bei dem sie die Ferien verbringen sollte. In einer Stadt, in der sie außer ihm nur zwei weitere Menschen kennt. We...