Kapitel 5

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Mit zitternden Fingern hielt ich das Kärtchen fest, das ich kurz zuvor aus der Hosentasche gezogen hatte. Dabei kramte ich mit meiner anderen Hand in den Jackentaschen nach Kleingeld herum. Das Smartphone lag durch die plötzliche Flucht meinerseits an irgendeinem Ort versteckt, ergo in Harolds Schränken oder Schubladen. Doch brachten mich keine zehn Pferde zurück zum Bungalow. Er kam gewiss bald heim und dann war ein Entkommen unmöglich.

Mit aufeinandergepressten Kiefern zählte ich das Kleingeld. Erstaunlich wie viel davon in den Jacken- und Hosentaschen steckte. Erleichtert atmete ich auf. Das waren genug Münzen, um Mick anzurufen. Nur wo war die nächste Telefonzelle? Meine Gedanken wanderten zu den Orten, die ich in Santa Monica bisher gesehen hatte. Das waren nur die Shopping Mall und der Vergnügungspark. Beide Plätze waren mir zu riskant. Nicht, dass dieser Widerling sich dort mit seinem Freund traf, um sein weiteres Vorgehen zu planen. Ein bitteres, kratziges Lachen entwich meiner Kehle. Der Süden der Stadt war zu gefährlich. Daher entschied ich mich für die entgegengesetzte Richtung. Circa eine Stunde lief ich gen Nordwesten über den Sand. Meine Beine und der Po brannten, weil es weitaus anstrengender war, als einen asphaltierten Weg zu nutzen. Der Strand erschien mir sicherer, da ich nicht erwartete, den Kerl hier anzutreffen. Doch auszuschließen war es nicht. Misstrauisch beäugte ich die Menschen, die mir entgegenkamen oder anderweitig meinen Weg kreuzten. Weder Harold noch sein Freund vom Pier war unter ihnen.

Der zuvor breite Sandstreifen verengte sich. In der Ferne ragten Maschendrahtzäune in die Höhe. Die Gischt schlug dort an Felsbrocken empor, die das Ufer säumten. Eine leichte salzige Brise wehte, während die mittlerweile tieferstehende Sonne den Himmel orange färbte. Eine Lösung für die Nacht musste her. Schutzlos draußen zu schlafen, war kein einladender Gedanke.

Bei den Tennisplätzen angekommen, die gleichzeitig das Ende des Badestrandes markierten, sah ich mich suchend um. Die Tränen waren längst getrocknet, das Salz brannte unangenehm auf meiner Haut. Kein öffentliches Telefon zu sehen, dafür entdeckte ich ein Straßenschild, das auf den Bel-Air Bay Club hinwies. Bei einem Veranstaltungszentrum gab es mit Sicherheit eine Möglichkeit zu telefonieren. Nur wie kam man über den Highway, ohne überfahren zu werden?

Die Lösung des Problems stand einige Meter weiter. Eine Ampel, die es den Besuchern des Tenniszentrums ermöglichte, den Parkplatz mit ihren Wagen unbeschadet zu verlassen. Beziehungsweise, damit Fußgänger die Überquerung der Straße überlebten. Doch bevor ich den Weg fortsetzte, pflanzte ich meinen müden Hintern auf einen Felsbrocken am Straßenrand, zog die Sneakers aus und entfernte den Sand. Sowohl aus den Schuhen und ebenso aus den Socken. Die Füße brannten bereits von den nervigen kleinen Körnchen, die sich auf meine Haut verirrt hatten. Selbst zwischen den Zehen klebte das Mistzeug.

Kurz danach lief ich den Bay Club Drive an einigen Palmen entlang. Trotz der verfahrenen Situation schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Palmengewächse gefielen mir besser als die Laubbäume in Toledo, die der Kälte im Januar standhalten mussten. In Kalifornien waren die Sommer trocken. Im Vergleich dazu waren sie in meiner Heimatstadt zwar warm, aber leider ebenso oft verregnet. Im Winter dagegen fror man sich bei Minustemperaturen den Hintern ab. Einer Rechtskurve folgend sah man direkt auf den Besucherparkplatz und kurz darauf entdeckte ich vor dem Gebäude das Ziel meiner Träume: eine öffentliche Telefonzelle. Hoffentlich funktionierte sie.

Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich die Münzen in den schmalen Schlitz warf und die Nummer vom Kärtchen eintippte. Ich hatte ein verdammtes Glück, überhaupt eines zu finden. Seit der flächendeckenden Nutzung von Smartphones waren fünfundneunzig Prozent der Telefonhäuschen verschwunden, weil sie sich nicht länger rentierten. Entweder hatte man sein Handy dabei, nutzte das Telefon eines Restaurants oder eines Kiosks.

„Bitte geh ran", flüsterte ich in die Sprechmuschel, als das Freizeichen erklang.

„Michaele Santoro." Oh Mann. So hatte ich mich noch nie gefreut, jemanden zu erreichen, auch wenn derjenige gerade etwas abwesend klang. Ich holte tief Luft.

„Mick? Hier ist Dakota. Ich... ich benötige deine Hilfe." Meine Stimme zitterte genauso wie die Hand, die den Hörer hielt. Hoffentlich hatte er das nicht nur so dahergesagt, als er mir die andere Karte gab und würde er helfen.

„Dakota? Cazzo!" Im Hintergrund hörte ich Geschrei, dann knallte es einige Male. „Süße, hör zu. Kannst du mich in circa einer Stunde wieder anrufen? Es passt gerade schlecht." Wieder erklangen die seltsamen lauten Geräusche und jemand fluchte. Dann kam nur ein Tuten. Der Italiener hatte einfach so aufgelegt.

Enttäuscht setzte ich mich auf den Boden, zog die Knie an und stützte das Kinn auf ihnen ab. Was hatte da so geknallt? Mick hatte gestresst geklungen. Schüsse? Hatte Harold recht und gehörten beide Jungs einer Mafia an? Oder war der Grünäugige irgendwo zwischen die Fronten geraten und hatte ich ihn im denkbar ungünstigsten Moment angerufen? Was, wenn er meinetwegen verletzt wurde?

Erneut liefen Tränen über mein Gesicht und ich biss mir in die Wange. Notfalls doch lieber zur Polizei? Ich stellte mir vor, wie ein paar Beamte bei dem Widerling klingelten und er sie mit seinem strahlenden Lächeln einließ, weil er die Beweise längst vernichtet hatte. Stattdessen bekam ich eine Anzeige wegen Verleumdung oder sie gaben mich wieder in seine Obhut. Dann war ich echt am Arsch. Mein Blick huschte auf die Armbanduhr. Eine Stunde, hatte er gesagt. Der Himmel über mir hatte schon einen dunkelblauen Ton angenommen. Nicht mehr lange und die Dunkelheit würde die Umgebung verschlucken. Meine Stirn sackte zurück auf die Knie. Es war doch alles aussichtslos.

Eine Weile saß ich so da. Kaute nervös auf meiner Unterlippe. Weder das Smartphone noch den Pass hatte ich bei mir. Beides lag im Haus von Harold, dem ich nie wieder begegnen wollte. Kleidung hatte ich auch nur die an meinem Leib. Welche Möglichkeiten besaß ich, wenn Mick mir nicht half? Polizei hatte ich abgehakt. Zurück nach Toledo war schier unmöglich ohne Geld und Ausweis. Per Anhalter, ja, aber das war mir zu gefährlich. Nicht, dass ich dann auf der Flucht vor einem Widerling, dem nächsten direkt in die Arme lief. Tränen rollten erneut über meine Wangen. Ich erhaschte einen verschwommenen Blick auf die Uhrzeit. Die Stunde war noch lange nicht um.

„Was treibst du denn hier? Solltest du um diese Zeit nicht zuhause sein?" Erschrocken sah ich hoch. Der Besitzer der Stimme stand direkt neben mir und ich zuckte zusammen.

Verdammte MafiosiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt