Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum ich gestern Nacht auf der Dachterrasse noch geglaubt habe, dass der Kuss in irgendeiner Weise eine gute Idee sein könnte. Oder dass ich danach einfach so weiter machen könnte wie bisher. Denn Überraschung: ich kann es nicht. Seit Kuss Nummer zwei, nachdem ich übrigens einfach abgehauen bin, laufen erstens meine Gedanken Amok und zweitens brüllt mich das letzte bisschen Verstand, dass noch da ist, an, dass ich Drew nie wieder unter die Augen treten kann, nachdem ich ihn einfach stehen gelassen habe.
Keine Ahnung, was er jetzt von mir denken muss, aber das ist gerade auch nebensächlich, da sich mein Kopf und mein Herz nicht einigen können, ob der Kuss gut oder ein totaler Fehler war. Was so viel bedeutet wie: ich sitze in meinem Zimmer und wechsle im Minuten Takt zwischen Tränen, Schuldgefühlen und einer leichten Schwärmerei für meine idiotischen Nachbarn. Meine Stimmungsschwankungen sind schlimmer, als wenn ich meine Periode habe, was eigentlich kaum möglich ist und meine Eltern haben mich sowohl beim Frühstück als auch beim Mittagessen angesehen, als wären sie sich nicht sicher, ob ich total bescheuert bin oder ob sie meinen Therapeuten verständigen sollen.
Da ich auf keinen Fall länger in meinem Zimmer sitzen kann, ohne dass mein Blick fast automatisch zu Drews Fenster wandert und ich Liv nicht erreiche, schnappe ich mir meine Trainigssachen, schlüpfe in meine Laufschuhe und zische an meinen Eltern vorbei durch die Haustür. Ich hoffe sehr für meine beste Freundin, dass sie meine Anrufe nur ignoriert, weil sie gerade verdammt heißen Sex mit Luke hat und dementsprechend beschäftigt ist. Ansonsten müsste ich sie vermutlich dafür umbringen, dass sie mich mit meiner Panikattacke allein lässt. Und Josh möchte ich nicht anrufen, da ich genau mitbekommen habe, wie er die Party gestern mit einem ziemlich gutaussehenden Typen verlassen hat. Bei ihm weiß ich also, dass er gerade definitiv beschäftigt ist.
Gedankenverloren biege ich in die nächste Straße ein und fange an mein Lauftempo etwas zu steigern. Meine Kondition ist definitiv nicht mehr das, was sie einmal war, aber es geht überraschenderweise besser, als ich gedacht habe. Früher habe ich joggen gehasst, da aber Tyler regelmäßig Ausdauer trainieren musste, hat er mich irgendwann so häufig mitgeschleift bis mir das Joggen sogar angefangen hat Spaß zu machen. Mit ungefähr achtzehn bin ich dann so regelmäßig mitgekommen, dass wir uns unsere eigene kleine Routine erstellt haben.
Samstag morgens sind wir immer gegen sieben erst am Strand entlang gejoggt, haben uns dann im Sommer in den Wellen abgekühlt und danach einen kurzen Stopp in unserem Lieblings- Coffeeshop eingelegt, bevor es wieder nach Hause ging. Meistens haben wir dann gleich noch frische Brötchen mitgebracht und in der Sommerzeit frische Früchte von den kleinen Ständen, die es hier am Strand in der warmen Jahreszeit wie Sand am Meer gibt. Es tut gut einen Teil dieser Routine wieder aufzunehmen.
Da Tyler mit dem Voranschreiten seiner Krankheit nicht mehr trainieren konnte und ihn das zusätzlich ziemlich belastet hat, habe ich das Joggen ebenfalls eingestellt und mir wird gerade erst bewusst, wie sehr es mir gefehlt hat. Man kann hervorragend dabei abschalten und dem Kopf eine Pause gönnen und ich stelle fest, dass das in Kombination mit der frischen Luft, tatsächlich dabei hilft, das Chaos in meinem Kopf ein wenig zu sortieren. Innerhalb von zehn Minuten konzentriert sich mein Körper nämlich nur noch auf das Brennen meiner Muskeln und nicht mehr auf Drew und den dämlichen Kuss, was ein herrlich befreiendes Gefühl ist.
Leider hält es nicht ewig an, da ich spätestens am Pier Dank meines Mangels an Kondition abbrechen muss und mich schnaufend auf meine Oberschenkel stütze, um wenigstens wieder etwas zu Atem zu kommen. Obwohl wir erst Februar haben, ist es trotzdem schon ziemlich warm und ich beschließe noch ein wenig durch die Mall zu laufen, da ich noch auf keinen Fall nach Hause zurück möchte.
Ich lege einen kurzen Zwischenstopp bei meinem Lieblingscoffeeshop ein und genehmige mir einen Chai Latte, mit welchem ich mich auf eine kleine Mauer setzte und die umstehenden Leute beobachte. Früher haben wir das oft getan und uns überlegt, welche Geschichte sie wohl haben. Ob sie verheiratet sind, zuhause eine Familie auf sie wartet oder ob sie noch auf der Suche nach dem großen Glück sind. Dann haben wir meistens angefangen von unserer eigenen Zukunft zu träumen. Wir wollten immer hier wohnen bleiben, eine Familie gründen und irgendwann in einem kleinen Haus mit unseren Kindern und einem Haustier wohnen. Allerdings konnten wir uns nie einigen, ob es eine Katze oder ein Hund sein sollte. Jetzt sind all diese Illusionen vollkommen bedeutungslos.
Meine Gedanken wandern wieder zurück zu Drew und dem Kuss. Ich weiß immer noch nicht, wie ich darüber denken soll. Ich habe noch nie eine andere Person geküsst als Tyler und wollte es auch nie. Aber auch das hat sich jetzt geändert. Und ich habe keine Ahnung, wie es jetzt weiter gehen soll.
Der Kuss war gut, anders und auch aufregend. Trotzdem fühlt es sich so an, als hätte ich die Liebe meines Lebens betrogen, auch wenn ich mich noch an jedes einzelne Wort von ihm, bezüglich solcher Situationen erinnere.
Flashback:
„Du musst mir etwas versprechen.", wispert Tyler, während er gedankenverloren eine Haarsträhne von mir zwischen seinen Fingern hin und her rollt. Ich drehe mich so, dass ich ihm direkt in die Augen sehen kann.
„Alles.", wispere ich zurück.
„Du musst mir versprechen, dass du weiter machst, wenn ich nicht mehr da bin."
„Hör auf.", unterbreche ich ihn. Ich will nicht darüber nachdenken, wie wenig Zeit uns noch bleibt, auch wenn es mir letzte Nacht schmerzlich bewusst geworden ist. Und ich will auf gar keinen Fall über eine Zeit nachdenken, in der es uns nicht mehr gibt.
„Doch, dass ist wichtig für mich. Ich muss dir das sagen und du musst mich es sagen lassen.", meint er, streicht vorsichtig über meine Wange und fängt eine Träne mit seinem Finger auf, die sich aus meinem Augenwinkel gelöst hat.
„Ich möchte, dass du glücklich bist. Ich würde es mir niemals verzeihen, wenn du meinetwegen auch nur eine einzige Sekunde unglücklich bist. Du musst weiter machen. Für uns beide. All die Abenteuer erleben, die wir gemeinsam erleben wollten. All die Städte bereisen, die wir noch sehen wollten und irgendwann eine Familie gründen." Ich schüttle energisch den Kopf. So etwas kommt für mich nicht mehr in Frage. Nicht ohne ihn. Das habe ich mir fest vorgenommen.
„Doch.", flüstert er. „Ich kriege keine Chance mehr zu leben. Aber du schon. Du hast dein gesamtes Leben noch vor dir und du solltest jede einzelne Sekunde davon genießen."
„Ich weiß nicht, wie das ohne dich möglich sein soll."
„Das wird es. Eines Tages wirst du aufwachen und merken, dass es gar nicht mehr so schlimm ist, dass ich nicht mehr bei dir bin, weil dann jemand anderes da ist, der für dich da ist. Und wenn diese Person kommt, dann darfst du dich nicht vor ihr verschließen. Dann musst du es zu lassen. Denn ich würde es mir niemals verziehen, wenn du wegen mir eine Chance verpasst glücklich zu sein. Und es ist okay, wenn du das mit einer anderen Person bist." Immer mehr Tränen laufen mir über das Gesicht.
„Es wird niemand anderen geben außer dir."
„Das sagst du jetzt. Und das ist auch in Ordnung. Ich will nur, dass du weißt, dass wenn es so weit ist, dass ich nicht eine einzige Sekunde sauer oder böse auf dich wäre, sondern eher verdammt stolz, dass du es geschafft hast."
Flashback ende
„Alles in Ordnung bei ihnen?", reißt mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Vor mir steht eine ältere Frau, die mich besorgt ansieht und mir ein Taschentuch reicht. Dankend nehme ich es an und tupfe mir die Tränen ab.
„Wer auch immer er ist. Er ist es nicht wert, dass sie seinetwegen weinen.", meint sie aufmunternd und drückt meine Hand ein letztes Mal, bevor sie sich umdreht und in Richtung der Geschäfte verschwindet. Ich muss lächeln. Sie hat mir ihrer Aussage unrecht und auch irgendwie recht, denn warum auch immer fühlt es sich trotzdem so an, als wäre mein Herz gerade in tausend kleine Stücke gebrochen. Doch vielleicht hat Tyler recht. Vielleicht ist Drew, wirklich derjenige, der dafür sorgen könnte, dass der Schmerz besser wird. Fakt ist, dass ich dringend mit ihm reden muss, weshalb ich meinen leeren Becher in den nächsten Mülleimer werfe und mich auf den Nachhauseweg mache.
Hi,
Da bin ich wieder. Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen🥰 was haltet ihr denn von solchen Flashbacks? Ich überlege nämlich häufiger welche einzubauen.Wir lesen uns im neuen Kapitel 🥰
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Two broken Souls - Finding Happiness Again
Romance„Suchst du etwas?", raune ich Everly zuckt so heftig zusammen, dass ihr erstens der Karton aus den Fingern gleitet und sie zweitens selbst das Gleichgewicht verliert und ins Straucheln gerät. Da ich allerdings finde, dass ihre Gesundheit wichtiger i...