61. Everly

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Ich habe kein Problem damit zuzugeben, wenn jemand Recht hat und ich mit meiner vorgefertigten Meinung nicht richtig lag, weshalb ich nicht verstehe, warum es mir so schwerfällt, einfach mein Handy in die Hand zu nehmen und Drew zu schreiben, dass ich seit über zwei Stunden, das Buch, dass er für mich rausgesucht hat, nicht weglegen konnte. Auch wenn ich es nicht erwartet habe, gefällt es mir gut. Wirklich gut. So gut, dass ich bereits gegoogelt habe, ob es einen zweiten Teil gibt. Manche Sachen ergeben für mich immer noch keinen Sinn und meiner Meinung nach, hat die Protagonisten ihr Schicksal wieder zu schnell akzeptiert, aber darauf war ich eingestellt.

Worauf ich nicht vorbereitet war, ist das Suchtpotential, dass von dem Buch in meinen Händen ausgeht, und dass ich nur kurz weggelegt habe, um mir einen Tee zu machen. Für zwei Stunden lesen bin ich zwar noch immer auf den ersten 50 Seiten unterwegs, aber ich war auch noch nie eine schnelle Leserin. Gerade als ich überlege, ob ich einfach noch weitert lese, oder mich endlich meiner Hausarbeit widme, die ich in den letzten Tagen ganz schön vernachlässigt habe, werde ich auf meine Mutter aufmerksam, die im Türrahmen steht und mich liebevoll anlächelt.

„Wie war dein Tag Liebling?", erkundigt sie sich und setzt sich an den Rand meines Bettes.

„Schön.", antworte ich und merke, wie mir innerlich ein wenig wärmer wird, als ich an Drew und unseren Nachmittag denke. Die Zeit mit ihm ist so unbeschwert und leicht und ich kann für einen kurzen Moment vergessen, wie kaputt mein Leben eigentlich ist. Drew schafft es jedes Mal aufs Neue, mir eine Auszeit von mir selbst zu geben, obwohl er es nicht mal versucht, und dafür bin ich so dankbar, dass ich es nicht einmal in Worte fassen kann.

„Drew und ich waren bei Diesel." Wie zum Beweis halte ich das Buch, dass mich die letzten zwei Stunden vollständig eingenommen hat und gebe es meiner Mutter, damit sie sich den Klappentext durchlesen kann. Sie zieht überrascht eine Augenbraue nach oben.

„Das entspricht aber nicht deinem Standardgenre."

„Ich weiß. Aber Drew hat nicht lockergelassen und ich muss zugeben, dass es nicht so schlecht ist, wie gedacht habe."

„Das freut mich. Die Zeit mit Drew scheint dir gut zu tun.", meint sie lächelnd und zupft eine Fluse aus meinen Haaren.

„Ja. Irgendwie ist es einfach mit ihm, alles für einen Moment zu vergessen. Ist das blöd?" Ich weiß nicht, warum ich die Bestätigung meiner Mutter brauche, um mich zu vergewissern, dass es ok ist, was ich aktuell tue. Vermutlich, weil ein Teil in mir immer noch verbittert, versucht mich zu überzeugen, dass ich alles falsch mache. Dass ich nicht lang genug trauere, dass ich mich anders verhalten müsste und dass es nicht richtig ist. Obwohl es dafür natürlich keine Regeln gibt. Vielleicht sollte ich das nochmal genauer in der Therapie ansprechen.

„Nein, dass ist es nicht. Liebling, du musst aufhören, dich selbst so fertig zu machen. Es gibt keine Regeln, was du tun solltest oder nicht. Das Einzige, was du versuchen solltest, ist, einen Weg zu finden, der sich für dich richtig anfühlt, mit der Situation umzugehen. Du musst noch nicht weitermachen, wenn du das aktuell noch nicht kannst. Aber du musst auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn du etwas oder jemanden gefunden hast, der dich ein wenig ablenkt. Das ist nicht falsch. Und das heißt nicht, dass es irgendetwas an deinen Gefühlen für Tyler ändert."

Sie spricht Tys Namen mit so viel Liebe aus, dass ich merke, wie meine Augen zu brennen beginnen. Tyler war der Sohn, den meine Mutter nie hatte und für den sie alles getan hätte, um ihm zu helfen. In der Sekunde, in der sie erfahren hat, dass er krank war, hat sie jeden Artikel gelesen, den es gab, um seine Krankheit besser verstehen zu können. Sie hat nach Lösungen gesucht und bis zum Ende für ihn gekämpft. Manchmal frage ich mich, ob ich jemals verstehen werde, wie sich sein Verlust für sie und meinen Vater angefühlt hat, denn ich bin mir sicher, dass ich nicht nachvollziehen kann, wie groß der Schmerz sein muss, der entsteht, wenn du dein Kind verlierst. Meine Eltern mögen zwar nicht, die gleiche DNA wie Tyler gehabt haben, aber dass hat sie nie davon abgehalten, ihn wie ihren eigenen Sohn zu sehen und zu behandeln.

„Ich habe Angst, dass er enttäuscht von mir ist. Dass er wollen würde, dass ich anders reagiere. Dass er anders reagieren würde."

„Dass werden wir nie wissen. Er würde mit Sicherheit wollen, dass du sofort weiter machst, und über den Schmerz so schnell wie möglich hinwegkommst, aber es ist etwas anderes in der Situation selbst zu sein. Wäre es andersrum, würde er auch seine Zeit brauchen. Wie lang, dass wissen wir nicht."

„Ich will doch einfach nur, dass es nicht mehr so weh tut, Mami.", flüstere ich und vergrabe mein Gesicht, an ihrem Hals, bevor ich die Tränen laufen lasse.

„Ich weiß", flüstert sie und streicht mir vorsichtig über das Haar, während ich in ihre Armen liege und stumm vor mich hin weine.

„Das wird es auch irgendwann nicht mehr. Aber es braucht Zeit. Tyler war der Mittelpunkt deiner Welt. Egal, was du in den zwanzig Jahren deines Lebens erlebt hast, er war immer an deiner Seite. Wenn es dir schlecht ging, war er derjenige, der dich aufgefangen hat, wenn du glücklich warst, dann habt ihr dieses Glück geteilt. Ihr beide habt eine so selten und so kostbar Verbindung gehabt, wie ich sie bei niemandem anderen gesehen habe. Es passiert nicht oft, dass man seinen Seelenverwandten in solch jungen Jahren schon findet, und es tut mir unfassbar leid, dass ihr nicht mehr Zeit zusammen gehabt habt. Deswegen gib dir selbst Zeit. Versuch nicht über einen Schmerz hinweg zu kommen, der tiefer geht, als dir im Moment vermutlich bewusst ist. Aber versuch auch nicht dagegen anzukämpfen, wenn du ihn für einen Moment vergessen kannst. Das ist nicht falsch und auch nicht verwerflich."

„Ich habe es immer noch nicht geschafft in sein Zimmer zugehen.", wispere ich. Eine Tatsache, die mich die letzten Wochen immer wieder beschäftigt hat, wenn ich in meinem Bett nachts aufgewacht bin und automatisch, nach links getastet habe, dort aber niemand war und ich mich so verflucht alleine gefühlt habe.

„Das musst du auch nicht. Beth und Tobi, werden nichts daran verändern, bis du bereit dazu bist.", flüstert sie und streicht mir beruhigend über den Rücken.

„Waren sie schon drin?" Ich sollte das nicht meine Mutter fragen, sondern Beth und Tobi selbst, aber sobald ich mich dazu überwinde, die beiden anzurufen, habe ich das Gefühl wieder in Tränen auszubrechen. Irgendwie schaffe ich es im Moment nicht einmal die beiden zu sehen. Denn sobald ich Beth sehe, sehe ich Tylers Augen, die so voller Liebe und Wärme sind und höre ihn in Tobis Stimme.

„Tobi schon. Beth schafft es ebenfalls noch nicht. Ich gehe morgen Abend mit ihr weg, damit sie ebenfalls ein wenig auf andere Gedanken kommt. Du kannst gerne mitkommen." Ich liebe es, dass meine Mutter mich nicht dazu drängt, sondern mir frei die Wahl lässt. Und gleichzeitig bin ich ihr so dankbar, dass sie für die beiden da ist, weil ich aktuell nicht weiß, wie ich meine Schwiegereltern unterstützen soll, wenn ich selbst nicht zurechtkomme. Vermutlich kann es meine Mutter ohnehin besser, schließlich sind sie und Beth seit dem ersten Semester beste Freundinnen.

„Ich überlege es mir.", wispere ich und schaue auf die Bilder an meiner Wand, die die Liebe meines Lebens zeigen, wie er strahlend am Strand steht. Und für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und stelle mir vor ebenfalls mit ihm an diesem Strand zu sein. Vielleicht ist er ja in genau diesem Moment dort. Vielleicht ist da, wo er jetzt gerade ist, immer ein Strand.

Two broken Souls - Finding Happiness AgainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt