Er/Sie
Zwei Tage sind vergangen, seit Yamila Yannie die Wahrheit ins Gesicht geschleudert hat. Seit sie jedes unausgesprochene Gefühl, jedes unausgesprochene Opfer mit roher Ehrlichkeit entblößt hat. Zwei Tage, in denen die Stille zwischen ihnen schwer wie Blei in der Luft liegt.
Yannie fühlt sich schrecklich. Nicht nur, weil sie ihre Schwester praktisch als schlechte Schwester bezeichnet hat, obwohl sie die beste ist, die sie sich je hätte wünschen können. Sondern auch, weil Yamila es nie verdient hat, all das allein zu tragen. Sie war immer da - immer bereit, Yannie aus dem Chaos zu ziehen, ohne jemals eine Gegenleistung zu erwarten. Sie hat für sie gelogen, für sie gestritten, für sie geblutet. Sie hat ihr Leben für Yannie gegeben, in jeder erdenklichen Weise.
Jetzt sitzt sie hier.
Auf dem Boden im Flur, die Knie an die Brust gezogen, den Blick auf die Wand gegenüber gerichtet. Ihre Gedanken sind zu laut, um sie zu ignorieren, und die Schuld in ihrer Brust fühlt sich schwer an.
Dann öffnet sich die Aufzugtür mit einem leisen Ding.
Yamila bleibt mitten im Gang stehen, als sie Yannie sieht. Einen Moment lang scheint sie zu überlegen, ob sie weitergehen soll, ob sie einfach in ihrem Zimmer verschwinden und es ignorieren soll. Doch stattdessen setzt sie sich ebenfalls auf den Boden, direkt gegenüber ihrer Schwester, den Rücken an die Wand gelehnt - eine vertraute, aber längst vergessene Geste.
Es war ihre Mutter gewesen, die sie früher gezwungen hatte, sich so hinzusetzen, wenn sie stritten. „Ihr müsst euch in die Augen sehen", hatte sie immer gesagt. Damals hatte es funktioniert - ein kleines, unausgesprochenes Ritual, das sie zwang, sich nicht aus dem Weg zu gehen. Aber Yamila... Yamila hatte nie wirklich über ihre eigenen Probleme gesprochen. Sie trug sie, ertrug sie, und ließ sie in der Stille verklingen.
Lange sagt niemand etwas.
Dann bricht Yannie das Schweigen. „Es tut mir leid."
Yamilas Blick bleibt ruhig, ihre Stimme gelassen. „Was genau?"
Yannie seufzt schwer, als würde all die Schuld mit einem Atemzug aus ihr entweichen. „Alles. Dass du immer meine Fehler ausbaden musst. Dass du immer für mich einstehen musst. Dass du immer diejenige bist, die sich um mich kümmern muss. Ich werde zu Dad gehen und ihm sagen, dass es meine Schuld war. Das alles meine Schuld war und du immer nur für mich..."
Yamila schüttelt den Kopf. „Nein, wirst du nicht." Ihre Stimme ist ruhig, aber bestimmt. „Ich komme damit klar, wenn er mich hasst - du nicht. Er hatte schon immer einen besseren Bezug zu dir. Du bist sein Liebling, seine Prinzessin. Ich bin viel zu sehr Mom. Das macht mir nichts aus."
Yannie schluckt hart. Es macht Yamila vielleicht nichts aus - oder vielleicht hat sie einfach nur gelernt, dass es nichts bringen würde, sich zu wünschen, dass es anders wäre.
Dann hebt sie langsam den Kopf. „Ich habe letzte Nacht jemanden hier gehört."
Für einen Moment erstarrt Yamila. Ihr Blick ist leer, aber innerlich rast ihr Herz. Ryan. Sie denkt an das Blut, an die Wunde, an die Erinnerungen, die er mit sich bringt. Aber sie wird es ihrer Schwester nicht sagen.
„Das war nur ich. Ich hatte Durst."
Sie steht auf, als wäre das Gespräch damit beendet. Doch Yannie lässt sie nicht so leicht davonkommen.
„Ist alles okay mit dir?" fragt sie nachdenklich. „Du wirkst... anders. Seit du zurück bist. Du sagtest etwas über all das, was du durchmachen musstest. Was hat dich verändert?"
Yamila spürt, wie sich eine Kälte in ihrer Brust ausbreitet. Sie will nicht darüber reden. Wird nicht darüber reden. Yannie hat genug eigene Probleme - sie muss nicht auch noch erfahren, dass Yamila sich manchmal fühlt, als würde sie ertrinken. Als würde sie nicht genug Luft bekommen, egal, wie tief sie einatmet.

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Love me touchless
Romance●Wird bearbeitet. Beginn: 15.02.25● Es tutet, immer wieder. Und wieder. Und wieder. Dann kurz bevor sie es aufgeben wollte, geht jemand ans Telefon. ,,Daddy?" sagt sie fröhlich und erleichtert. ,,Ja?" seine Stimme, die mit Hass erfüllt ist, zerreißt...