Kapitel 36

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Die Tür wurde geöffnet und eine junge Frau trat ein. Ihre roten Haare hatten einen unnatürlichen, violetten Glanz und ihre roten Augen richteten sich einen Moment auf Zunae, bevor sie sich verneigte. »Ich bringe Euch König Yelir, Lord Sisenem«, sagte sie mit sanfter Stimme, die Zunae einen Schauer über den Rücken jagte.

Sie wusste sofort, dass es sich um einen Vampir handelte. Allerdings hatte sie diese Frau als Kind hier nie gesehen.

Vampire ähnelten den Meerjungfrauen in vieler Hinsicht und waren doch so ganz anders.

Das Göttertier der Raben war in der Lage gewesen, Vampire als seine Untergebenen zu erschaffen, doch es gingen Gerüchte um, dass auch reinblütige Magier dies konnten. War diese Frau vielleicht sogar von Sisenem gewandelt wurden?

Zunae schielte zu diesem, der sanft lächelte. »Ich danke dir, Soraya.«

Sofort wurde klar, dass zwischen dieser Frau und Sisenem eine ganz besondere Verbindung herrschte. Eine, die sie zwar misstrauisch machte, die sie aber auch freute.

Die Frau trat zurück, verneigte sich leicht und ließ dann Yelir eintreten. Dieser wirkte erhaben und hatte das Kinn gehoben, doch Zunae erkannte in seinen Augen Vorsichtig und vielleicht ein wenig Skepsis.

Als er Sisenem erblickte, verneigte er sich ein kleines Stück, um seinen Respekt kund zu tun. Ein deutliches Zeichen dafür, dass die Raben durch ihre Gaben, wirklich hoch angesehen waren.

»Setzt Euch zu uns«, bat Sisenem, der auf das Sofa ihnen gegenüber deutete.

Yelir wirkte noch immer skeptisch, ließ sich aber nieder. »Ihr wolltet mit mir sprechen?«, fragte er, wobei er seine hochnäsige Art durchaus beibehielt.

Er zeigte deutlich, dass er ein König war und sich nicht unterwerfen würde.

Zunae kam nicht umhin, ein wenig rot zu werden. Yelirs Ausstrahlung war sehr anziehend.

»Ich möchte, dass du mir von den Vorfällen erzählst, in denen Zunae verletzt wurde«, erklärte Sisenem mit ruhiger Stimme, während er Yelirs Blick ruhig und ungerührt erwiderte.

Yelir hingegen wirkte überrascht und schielte einen Moment zu Zunae, die versuchte, unbeteiligt zu schauen.

»Beim ersten Mal habe ich nur die Worte meines Bruders«, erklärte er und begann dann zu erzählen.

Zunae spitzte die Ohren, während ihr Herz immer heftiger klopfte. Sie hörte das erste Mal, was Degoni Yelir erzählt hatte und das überraschte sie doch. »Er hat gesagt, dass sie für einen Moment einfach verschwunden war«, erklärte Yelir, der noch immer ungläubig klang. »Ich habe ihm nicht geglaubt, weil es so verrückt klingt. Aber beim zweiten Mal ... Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Es war, als wäre sie für einige Sekunden einfach weg. Nicht einmal unsichtbar, da die Decke selbst zu Boden gefallen war.«

Zunae erschauderte und schlang die Arme um sich. Sie war verschwunden. Das hatte sie bis zum jetzigen Moment nicht gewusst.

Ihr Herz klopfte stärker, während sich Angst in ihr breit machte. Sie wusste, was das hieß.

Sisenem räusperte sich, doch Zunae hörte nicht genau zu. Zu laut klopfte ihr Herz in ihren Ohren.

»Wie viel weißt du über Zunaes Gabe?«, fragte er nach.

Mühsam versuchte Zunae ihren Fokus auf Yelir und Sisenem zu richten. Vielleicht war die Angst unbegründet und es war nur Zufall.

Yelir hob eine Augenbraue. »Sie macht ein Geheimnis darum, also weiß ich nichts.«

Überrascht blickte Sisenem zu Zunae, bevor er sogar ein wenig lächelte. »Ja. Das passt zu ihr. Aber vielleicht war das bisher auch besser so. »Sisenem atmete einmal kurz durch, bevor er seinen Blick wieder auf Yelir richtete. »Sie besitzt eine sehr seltene Gabe. Während die Seher, die hier leben, nur in der Lage sind, die Zukunft zu erahnen und durch Bilder zusammenzusetzen, sind ihre Bilder viel klarer und auf ihre eigene Zukunft fixiert. Die Distanz, die bei unseren Visionen vorhanden ist, gibt es bei ihr nicht. Sie spürt, was die Bilder ändern könnte und ihre Entscheidungen können die Zukunft verschieben«, erklärte er, wobei er Yelir weiterhin anstarrte.

Diesem war anzusehen, dass er Mühe hatte, dem Hohepriester zu folgen. »Sie kann ... die Zukunft sehen?«, fragte er ein wenig atemlos. Scheinbar war das alles, was er aus Sisenem Erklärung mitgenommen hatte.

Dieser erwiderte recht nüchtern: »Würde sie sonst eine weiße Robe einer Priesterin tragen?«

Yelir blickte erneut zu Zunae. Sein Blick ungläubig und gleichzeitig besorgt, als er bemerkte, wie blass und zusammengesunken sie auf dem Sofa saß.

Yelir räusperte sich. »Es ist das erste Mal, dass ich sie in einer solchen Robe sehen«, erwiderte er. »Sie neigt dazu, diese Dinge geheim zu halten.«

Sisenem nickte bedächtig. »Diese Gabe ist so selten, dass es kaum Aufzeichnungen über sie gibt. Nicht einmal in unseren Archiven. Allerdings könnte das, was Ihr erzählt habt, darauf hindeuten, dass die Gabe sich verändert. Entwickelt.«

Zunae spürte, wie der Stein der Erkenntnis in ihren Magen versank. Ihre Finger spielten unruhig miteinander. Noch hatte er es nicht gesagt. Das musste nichts heißen.

»Dann ist das ... gut?«, fragte Yelir mit hochgezogen Augenbraue.

»Das lässt sich nicht sagen«, erwiderte Sisenem angespannter als noch zuvor.

»Ihr seid doch ein Seher. Könnt Ihr nicht einfach einen Blick in die Zukunft werfen, um das zu beurteilen?«, fragte er und musterte Sisenem. Dieser blickte kurz zu Zunae, bevor er leicht den Kopf schüttelte.

»Ich fürchte im Bezug auf Zunae sind wir alle blind.«

»Was bedeutete das?«, fragte Yelir, dem das Fragezeichen über seinem Kopf deutlich anzusehen war.

»Dass ich in ihren Visionen ein schwarzer Fleck bin«, erwiderte Zunae ruhig. »Sie können nichts sehen, was mich betrifft oder mit mir im Zusammenhang steht.«

Yelir knirschte mit den Zähnen. »Dann eine theoretische Einschätzung. Was sind die Vorteile und was die Nachteile dieser Entwicklung?«, fragte er und schien das Thema hier noch nicht beenden zu wollen.

»Nun. Es könnte möglich sein, dass sie, in dem Moment, in dem sie verschwand, in der Zeit gereist ist.«

Bei Sisenem Worten zuckte Zunae heftig zusammen. Ihr Körper zitterte bei dieser Vorstellung, denn sie wollt es einfach nicht wahrhaben. Das konnte einfach nicht sein. Das durfte nicht sein. Das hatte sie nicht gesehen!

Yelir stieß den Atem aus. »Zeitreisen«, sagte er, als würde er es einfach nicht glauben. Zunae konnte es gut verstehen, denn das klang auch für sie noch immer sehr absurd. Dabei hatte sie die Berichte gelesen. Sie wusste auch, wie diejenigen geendet waren.

Zeitreisen war ein seltenes Phänomen, doch entgegen von Sisenem Worten gab es Aufzeichnungen darüber. Zunae fragte sich nun, ob er diese Sachen vor Yelir oder sogar vor ihr geheimhalten wollte.

»Es klingt hilfreich, aber was ist der Haken?«, fragte Yelir weiter, der in Gedanken versuchen und sehr ernst wirkte.

»Wie Ihr gesehen habt, sind es keine einfachen Visionen. Sie befindet sich in dem Moment an diesem Ort. Eine Verletzung ... kann durchaus tödlich sein.«

Zunae zuckte heftig, als sie daran dachte, wie das Feue rsie umgeben hatte. Es hätte sie in ihrer Vision töten können. Sie hatte Glück, dass nur eine Wunde zurückgeblieben war.

Yelir riss die Augen auf und starrte Sisenem entsetzt an. »Das heißt, sie könnte einfach verschwinden und nie wieder kommen, weil sie in einer Zeit gelandet ist, in der man sie umgebracht hat?«, fragte er entsetzt.

Er war ein wirklich schlauer Mann und Zunae hatte Angst ihm zu sagen, dass genau das mit den Sehern geschehen war, die diese Gabe besessen hatten. Sie waren irgendwann einfach verschwunden und nie wieder aufgetaucht.

Das Blut der Drachen (Band 1+2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt