Kapitel 44

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Die Mittagssonne stand hoch am Himmel und Zunae hatte zusammen mit ihrem Vater ein wundervolles Mittagessen zu sich genommen, was ihre Laune nur noch besser machte.

In der Ferne kamen die Kutschen in Sicht, die ihren Schwestern gehörten.

Aufregung packte sie, als sie von ihrem Balkon zurück ins Zimmer und dann hinaus in die Flure lief.

Dort wurde sie bereits von Yelir und Sisenem erwartet, die sie nach draußen begleiteten.

Zunae hätte nie gedacht, dass sie sich einmal darüber freuen würde, dass hier die Regeln der Höflichkeit nicht so eng gesehen wurden. Zuhause hätte sie niemals so unbeschwert Gäste begrüßen dürfen, auch wenn sich dort die Sitten langsam lockeren. Vermutlich war das auch Misha zu verdanken.

Zunae kam unten bei Yelir und Degoni an, als die Kutschen hielten.

Zuerst stieg Aidina aus, die schon einmal mit Misha hier gewesen war. Dann folgte Kali, die sich neugierig umsah. Als sie Zunae erblickte, begann sie zu strahlen und lief mit schnellen Schritten auf ihre Schwester zu. Das blaue Haar, das zu einem lockeren Zopf hochgebunden war und das eher schlichte Kleid passten perfekt zu ihr. Sie war eine Kriegerin, keine Adlige. Auf dem Schlachtfeld machte ihr niemand etwas vor und doch wirkte sie sehr zart, vielleicht sogar ein wenig zu schmal. »Zunae«, sagte sie und nahm ihre Schwester fest in den Arm.

Sie war größer als Zunae, dafür aber wesentlich schmaler und doch hatte sie einen sehr festen Griff.

Zunae lachte leise und erwiderte die Umarmung. Sie schloss sogar einen Moment die Augen und unterdrückte die aufkommenden Tränen. Am liebsten hätte sie Kali nie mehr losgelassen, doch sie löste ihre Umarmung, schob sie ein Stück von sich und musterte sie. Immerhin war Kali die Jüngere, sodass sich Zunae immer Sorgen um sie machte. »Du siehst gut aus«, bemerkte Zunae, was Kali strahlen ließ.

»Die Ruhe bekommt mir gut«, bemerkte sie und drehte sich einmal im Kreis. Zunae fiel sofort auf, dass sie etwas an Gewicht zugelegt, was ihr sehr gut gefiel.

»Das stimmt. Sie sitzt stundenlang in der Bibliothek und liest«, bemerkte Aidina leise lachend.

Zunae blickte ungläubig zu Kali. Sie war schon immer ein Naturmensch gewesen und liebte es, sich mit anderen zu messen. Dass sie in der Bibliothek sitzen und lesen sollte, kam ihr irgendwie surreal vor.

»Was liest du denn da?«, fragte sie mit skeptisch zusammengekniffenen Augen.

Kali stieg die Schamesröte ins Gesicht, bevor sie abwinkte. »Nicht so wichtig. Wie geht es dir?«, fragte sie ausweichend, was Zunae leise lachen ließ. Sie hätte Kali gern noch weiter ausgefragt, doch in dem Moment kam die zweite Kutsche an.

»Gut soweit«, sagte Zunae gerade, als der Kutscher die Tür öffnete.

Zuerst stieg Nuya aus, die sofort alle Blicke auf sich zog.

Ihre Haare waren schneeweiß und zu einem lockeren Zopf geflochten, der ihr bis zu den Kniekehlen reichte. Einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht, betonten aber die intensiven, eisblauen Augen.

Anders als Zunae hatte sie ein recht markantes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem sanften Schimmer, der aussah, als wäre ihre Haut mit Raureif überzogen. Nicht umsonst besaß sie den Spitznamen Eisprinzessin.

Es ging sogar das Gerücht um, dass man einfror, wenn man sie berührte. Doch da Misha auch gerade ausstieg und ihr den Arm reichte, an den sie ihren Arm legte, war das Gegenteil bewiesen.

Zunae wusste jedoch, woher dieses Gerücht rührte, denn auf dem Schlachtfeld war ihre Spezialität ein Feld aus Eis.

Als Nuya auf sie zu kam, trat Yelir neben seine zukünftige Ehefrau. Zunae spürte seine Hand in ihren Rücken. Eine Geste, die sie überraschte, weil sie nicht genau verstand, was er damit bewirken wollte. Auf sie wirkte er angespannt und vielleicht auch nicht ganz so überzeugt von diesem Treffen. Aber es war friedlicher Natur. Nur das zählte.

»Sie wirkt nicht, als hätte sie vor kurzem ein Kind bekommen«, bemerkte Yelir angespannt.

Zunae war das ebenfalls schon aufgefallen, doch da sie ihre Schwester kannte, wusste, dass diese sehr gut darin war, Dinge zu verstecken, von denen sie nicht wollte, dass andere sie sahen, maß sie dieser Sache keine sonderliche Bedeutung zu.

Erst recht nicht, als sie erkannte, dass eine Amme ebenfalls aus der Kutsche stieg. Sie trug ein kleines Bündel in den Armen, das Zunae sofort neugierig machte. Zunae war nicht bewusst gewesen, dass sie das Kind mitbringen würde. Umso überraschter war sie, als Nuya sie nur kurz umarmte und dann das Baby der Amme abnahm und Zunae in den Arm drückte.

Smaragdgrüne Augen öffneten sich und blickten Zunae für einen Moment verschlafen ab. Kleine Händchen bewegten sich und griffen nach Zunaes rotem Haar, an dem kurz neugierig gezogen wurde, bevor die Augen wieder zugingen und das Kind einschlief. Vermutlich erschöpft von der langen Reise.

Zunae spürte den Knoten in ihrem Hals und dieses Mal konnte sie die Tränen nicht zurückhalten. »Sie ist niedlich«, bemerkte sie leise, wobei sie Mühe hatte, dass ihre Stimme nicht brach.

»Ihr Name ist Suna«, erklärte Nuya mit leiser Stimme, was Zunae für einen Moment aufsehen ließ. So hatte Nuya Zunae früher immer genannt, da sie ihren Namen in der Kindheit nie hatte richtig aussprechen können. Als sie den Blick ihrer Schwester auffing, gelang es ihr nicht, einen Ton hervorzubringen. Ihr Herz schmerzte bei dieser Geste und Tränen traten ihr in die Augen, die sie versuchte, zu verstecken. Daher war sie auch sehr froh, als Yelir eingriff, auch wenn dieser lediglich seinen Bruder begrüßte.

»Und, wie ist es so, Papa zu sein?«, fragte er neckend, was Misha lediglich ein strahlendes Lächeln auf die Lippen zauberte.

»Ich kann mir nichts besseres vorstellen«, sagte er sichtbar zufrieden mit seiner Rolle als Vater.

Yelir klopfte ihm die Schulter. »Glückwunsch«, sagte er noch einmal, bevor sich Zunae endlich losreisen konnte.

Sie reichte Suna an Nuya zurück, die das Mädchen leicht schaukelte. »Ich zeige euch eure Zimmer«, legte sie fest, wobei sie kurz fragend zu Nuya schielte, die leicht nickte.

Die kleine Gruppe setzte sich in Bewegung, wobei Zunae voranging. Dennoch konnte sie Yelir und Misha flüstern hören.

»Ich mache mir wirklich Sorgen. Jetzt sind wir alle hier. Was, wenn wir angegriffen werden?«, fragte Misha, der immer wieder zu Nuya blickte, als hätte diese ihn mit irgendwas überredet, hier zu sein, obwohl er nicht wollte.

»Es wird nicht passieren«, versicherte Yelir. Zunaes Worte, als er die selben Bedenken geäußert hatte.

»Woher willst du das wissen?«, fragte Misha leise und ein wenig aufgebracht.

»Ich habe da meine Quellen«, versicherte Yelir abwinkend. »Sagen wir ... wir hatten einen überraschenden Blick in die Zukunft.«

Zunae konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Misha die Stirn runzelte. »So richtig ... offiziell?«, fragte er, als wäre er noch immer nicht zufrieden.

»Nein. Nicht offiziell, aber der Hohepriester der Raben ist hier, um uns zu trauen. Das sollte doch wohl genug Garantie sein.«

Zunae konzentrierte sich wieder darauf, den Weg zu zeigen, doch sie bemerkte, dass das Gespräch der Brüder noch nicht vorbei war. Nur nahm es jetzt eine andere Wendung und die Raben standen im Vordergrund.

Zunae lauschte zwar, doch sie konzentrierte sich auch auf ihre Schwestern. So von der Familie umgeben zu sein, gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit und unterdrückte die Angst vor der Zukunft.

Gern hätte sie auch ihre Mutter bei sich gehabt, doch jemand musste zuhause bleiben und alles regeln.

Nuya ergriff ihre Hand und drückte sie leicht. Ihr Gesicht blieb dabei jedoch ungerührt.

Zunae wusste aber, dass sie Nuya Sorgen machte. Sie kannte die Wahrheit nicht. Niemand kannte sie. Zunae hatte nur mit ihrem Vater gesprochen und auch da nur angedeutet, was sie vermutete.

Das hier würden ihre letzten Stunden mit ihren Schwestern sein. Bald schon würde sie sich ihrem Schicksal stellen und verhindern, dass jeder, der ihr wichtig war, abgeschlachtet wurde.

Über den Preis wollte sie im Moment jedoch nicht nachdenken.

Das Blut der Drachen (Band 1+2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt