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Du wirst unvorsichtig

Mit vor Wut geballten Fäusten riss ich auch dieses Post-It vom Briefkasten und zerknüllte es. Es war Donnerstag in der Früh, ich übermüdet wie sonst auch und auf dem Weg zu meinem täglichen Training, welches ich absolvierte, seitdem ich bei den Votexkämpfen weitergekommen war.

Meine Hände zitterten leicht, mein Körper stand unter Hochspannung und jeder, der mir jetzt über den Weg gelaufen wäre, würde wahrscheinlich zur Schnecke gemacht werden, nur, weil ich ein Ventil suchte, um meiner aufgestauten Aggression abzulassen.

Aaron lehnte am Eingang der Lagerhalle in welcher wir derzeit trainierten und zog genüsslich an seiner Zigarette, ehe er mich bemerkte und ein Grinsen sich auf seine Lippen schlich. Angewidert verzog ich das Gesicht. Und diesen Menschen soll ich für einen kurzen Zeitpunkt gemocht haben?

„Morgen.", grüßte ich ihn dennoch und drängte mich an ihm vorbei um in die verstaubte und dreckige Halle zu gelangen. Von meiner Stirn perlten die Schweißtropfen, meine Wangen waren gerötet und mein Brustkorb hob und senkte sich im beschleunigten Tempo.

Reece, welcher bereits mit Chase im provisorischen Ring stand, hörte auf, auf seinen Freund einzuprügeln und sah in meine Richtung: „Du bist zu spät!", bellte er mir erbost entgegen, doch verdrehte ich nur meine Augen und entledigte mich von meiner Jacke.

Von mir aus, konnte er mich wegen sonst etwas anbrüllen, viel mehr lag die Aufmerksamkeit meiner Gedanken, bei den Post-It-Zettelchen, welche ich bislang bekommen habe. Niemand der sich auch nur in meinem Umfeld befand, konnte ahnen, was für Lügen ich aufrechterhielt. Woher also, sollte jemand die Wahrheit kennen?

Ich zog mir den Pullover von Damien über den Kopf, welchen ich aus seinem Kleiderschrank entwendet hatte, und straffte die Schultern. Meine Unterarme waren wie bei jedem Training entblößt, meine Brust nur durch einen Sport-BH verdeckt und meine Beine umhüllt von engen Leggins.

Wie nicht anders zu erwarten spürte ich wie so oft die Blicke der restlichen Anwesenden auf mir, ignorierte sie aber und schritt auf den Ring zu, um mich in diesen hinauf zu hieven. Auffordernd sah ich den schwarzhaarigen mit den blau-grünen Augen an: „Worauf wartest du?"

Der einzige Kerl in diesem Raum, der bis vor kurzen noch meinen Respekt hatte, atmete tief durch die Nase ein und stieß die angehaltene Luft durch den Mund aus: „Was ist dein scheiß Problem?", wollte er mit Zorn in der Stimme von mir wissen und zog dabei die Brauen zusammen, sodass sich eine Falte auf seinem Nasenbein bildete und ihn älter wirken ließ, als er war.

„Halt die Klappe und kämpf, Reece.", zischte ich, nicht auf seine Frage eingehend. Die jungen Männer besannen sich der Realität, dass ich mit ihnen nicht über meine Sorgen und meinen Kummer reden würde, und begannen, mit dem Training anzufangen.

Einige Zeit verging so sehr schnell und ehe ich mich versah, war es auch schon dunkel draußen und die Laternen eingeschaltet, um zumindest ein wenig die Nacht zu erhellen für all die, die um diese Uhrzeit noch draußen umher wandten.

Devil, wie sich Reece mit Künstlernamen nannte, hatte in den letzten Wochen des Trainings einige Tricks dazu gelernt, die ihm das Leben sichern würden. Es war mir schon immer fragwürdig, wie die Organisatoren der Votexkämpfe sich so viele Opfer erlauben durften, immerhin war dies die Realität und kein Hollywood-Gangster-Film, in dem man einfach mal jeden umlegen konnte, den man nicht mochte. Wo war die Polizei während der Kämpfe?

Ich schloss erschöpft die Wohnungstür auf und schlüpfte durch einen kleinen Spalt hinein um die Wärme, die sich im Raum durch die Heizung angesammelt hatte, nicht entweichen zu lassen und zog sie hinter mir wieder zu.

Meinen Kopf an dem alten Holz lehnend glitt ich hinunter auf den Boden und winkelte meine Beine an, um diese mit meinen Armen zu umschlingen und tief durchzuatmen. Alles hier in Chicago wurde mir zu viel. Sei es zu emotional oder zu gefährlich, es wurde zu viel.

Ich musste eingeschlafen sein, denn, als ich in der Nacht aus meinen Albträumen schweißgebadet aufschreckte, lag ich nicht mehr auf dem kalten Fußboden, sondern auf der klapprigen Couch von Dean, welche er schon einige Jahre haben musste.

Ein Wimmern drang aus meinen bebenden Lippen. Ich verdrängte die aufgekommenen Tränen, griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein um mich abzulenken, doch immer wieder schossen mir die Bilder des Feuers vor Augen.

Jemand, und ich wusste nicht, wer diese Person war, kannte mein Geheimnis und wollte es lüften, wenn ich nicht vorsichtiger werden sollte. Ich musste mir eingestehen, dass ich mächtig in der Scheiße saß und nicht in naher Zukunft aus ihr rauskommen würde.

Not the truthWo Geschichten leben. Entdecke jetzt