"Auf die Rettungsboote!", rief eine Männerstimme und ein Schrei dröhnte über das ganze Schiff und vermutlich auch noch viele Meilen weiter über das Meer.
"Jessie! Wo bist du?", rief eine andere Stimme.
Auf dem Schiff war es sehr voll. Voller als sonst. Wahrscheinlich, weil alle ihr Leben retten wollten. Überall liefen Piraten aus der Crew meines Vaters hin und her. Aye, mein Vater war ein Pirat und ich war sehr stolz darauf seine Tochter zu sein. Denn unter den meisten Piraten war er bekannt. Bekannt als derjenige, dessen Kampf- und Schießkünste überwältigend waren. Und ich... tja, ich war Jessie. Jessie Bones. Eigentlich nichts Besonderes. Nur eine Piratentochter, wie jede andere auch. Aber ich war Piratin mit Herz. Und das machte mich irgendwie stolz. Diesen Titel hatte ich mir letztes Jahr selbst zugeteilt, weil ich fand, dass es passte. Piratin mit Herz. Wirklich: so etwas konnte auch nur mir einfallen.
Ich für meinen Teil liebte das Meer und die Freiheit. Genau wie mein Vater. Er sagte mir immer, er erkenne in meinen Augen die Freiheit. Er sagte, sie seien so blau, wie der Himmel und das Meer. Das Gen mit den blauen Augen hatte sich bei ihm aber nicht durchsetzen können. Seine Eltern, sein Bruder und seine Schwester hatten nämlich alle blaue Augen - beziehungsweise hatten sie alle blaue Augen gehabt, denn die Familie meines Vaters war entweder tot oder verschollen; die einzigen, die übrig geblieben waren, waren mein Onkel Chris und mein Cousin David -, nur seine waren grau-grün. Dafür hatte ich aber die braunen Haare von ihm. Und meine Fechtkünste - wobei dafür wahrscheinlich eher mein bester Freund und früherer Aufpasser Hendric verantwortlich war, der rote Wuschelhaare, strahlend grüne Augen und überall Muskeln und Sommersprossen hatte und so knuffig war, dass es fast schon wieder hätte verboten sein sollen. Nebenbei bemerkt konnte er auch noch Gitarre spielen und wundervoll singen. Hendric war schon wirklich ein Traumkerl von bestem Freund.
"Jessie!", rief mein Vater erneut.
Am liebsten wollte ich mich melden und rufen, dass es mir den Umständen entsprechend gut ging, aber meine Kehle war zu trocken und der Kloß in meinem Hals einfach zu dick, um zu antworten. Verdammter Mist. Und die Angst, die in seiner Stimme lag fuhr mir durch die Knochen und hauchte mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Unser Schiff würde untergehen. Unten in den Schlaf- und Lagerräumen war schon alles voller Wasser. Wer hätte gedacht, dass wir uns einfach so ein Loch in den Schiffsbauch hätten einfangen können?
Ich stellte mich in eine Reihe zu den anderen, in der Hoffnung, es gäbe noch genügend Rettungsboote. Doch plötzlich fing das Schiff heftig an zu schaukeln.
"Jessie!", brüllte mein Vater. "JESSIE!"
Unfähig zu antworten, versuchte ich meine Balance zu halten - ich hatte es nicht so mit Balance halten -, denn die gegenüberliegende Seite des Schiffes versank nun langsam im Meer.
"NEIN!", brüllte mein Vater. "Jessie! JESSIE! Wo bist du?!"
Und der Kloß in meinem Hals wuchs. Ich dachte, mein Hals würde platzen, so sehr dehnte sich dieser verdammte Kloß darin aus. In MEINEM Hals! Sollte sich dieser dumme Kloß doch selbst einen anschaffen... Und unter den vielen 'Hilfe!'- und 'Wir sind verloren!'-Rufen hörte ich meinen Vater mit einem Piraten aus der Crew reden.
"Was, wenn Jessie nun schon im Meer ist? Wenn sie von anderen Piraten gefunden wird? Vielleicht von...", sagte er gerade und erschauderte, "...Jack Sparrow?!"
Oh ja, mein Vater fürchtete den Piraten der Karibik: Jack Sparrow. Oder vielmehr Captain Jack Sparrow, so viel Zeit musste sein. Schließlich wusste ich von Hendric und den Geschichten, die er mir immer erzählt hatte - natürlich im Auftrag meines Vaters -, dass Sparrow immer auf seinen Kapitänstitel bestand. Und wehe, man vergaß ihn! Mein Vater respektierte und fürchtete ihn mehr als keinen anderen. Er meinte, Sparrow sei blutrünstig und mordlustig und immer auf einen Kampf aus. Außerdem sollte er wohl dauerbetrunken, unehrlich und ehrenlos sein, eine Schwäche für Rum haben und es auch mit Frauen nie ernst meinen. Ich begegnete ihm wohl besser nicht...
Aber jetzt hatte ich echt andere Sorgen, denn ich rutschte nun aus und stürzte - bei meinem tollen Glück, dass mich wie immer und typischerweise im Stich ließ - direkt durch die offene Klappe unter Deck in den Schlafraum der Crew. Es platschte, als ich im Wasser landete. Ich sah hinauf. Mist! Die Klappe war zugefallen. Warum zum Henker ließ man auch diese verdammte Klappe auf, wenn Jessie Bones an Bord war?! Mittlerweile sollte es doch jedem hier mehr als klar sein, dass ich zu Unfällen neigte und eventuell hineinfallen könnte, verdammt!
Und zu meinem Bedauern stieg das Wasser immer weiter an. Ich würde sterben, wenn ich hier nicht wieder raus kam. Sterben. Doch ich durfte nicht aufgeben. Aber das Wasser stieg einfach zu schnell an, dass ich überhaupt keine Chance, geschweige denn Zeit hatte, irgendetwas zu tun. Denn schon war ich ganz unter Wasser. Ich hatte die Luft angehalten und schwamm auf die Klappe zu. Ich spürte, dass das Schiff sank - mich in seinem Bauch. Die Wassermengen pressten meine Lunge zusammen. Hektisch versuchte ich weiter zu schwimmen. Das Salz brannte in meinen Augen und für einen Moment musste ich sie zusammenkneifen.
Weiter!, munterte ich mich selbst auf.
Und ich öffnete aufgrund der Wassermassen, die dagegen hielten, mit Mühe die Klappe und schwamm nach oben ans Deck.
Gleich geht mir die Luft aus!, schoss es mir panisch durch den Kopf.
Mein letztes Ziel war es, die Wasseroberfläche dort oben zu erreichen in der Hoffnung noch von meinem Vater und der Crew entdeckt zu werden. Ich stieß mich mit wirklich letzter Kraft von unserem sinkenden, fast vollkommen versunkenen Schiff ab. Während es weiter nach unten sank, schwebte ich nach oben. Mein letzter Gedanke war, während ich so nach oben schwebte und meine langen braunen Locken im Wasser um meinen Kopf herumwehten, wie es wohl meinem Vater und der Crew ging. Dann wurde ich bewusstlos. Vermutlich aus Sauerstoffmangel.
"JESSIE!"
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Always the Sea - Die Abenteuer der Jessie Bones (Fluch der Karibik FF)
Fanfiction»Wer seid Ihr?« - »Vielleicht werde ich das später mal erwähnen, aber ich weiß, wer Ihr seid.« Captain Jack Sparrow ist mal wieder auf Schatzsuche. Jedoch auf Umwegen. Denn die Black Pearl strandet auf einer Insel. Doch die Piraten bleiben nicht lan...