04 | Smaragdgrün und grau

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Es ist schön, den Augen dessen zu begegnen, den man soeben beschenkt hat.

Jean de La Bruyére

***

Arya

Onkel und ich befanden uns bei der Passkontrolle. Ich wusste nicht was mich erwartete, gar was ich tun sollte. Die Menschen in meiner Umgebung hatten sich daran gewöhnt, mit mir das machen zu können was sie wollten. Das traurige an der Sache war, dass sie es tatsächlich schafften. Die Stärke mich wehren zu wollen, war schon lange nicht mehr in mir präsent. Nichts von meiner naturellen Charaktereigenschaft existierte noch. Ich tat genau das, was ich in meinem normalen Zustand niemals getan hätte. Und das wäre, mich von anderen leiten zu lassen. Zwar ist er mein Onkel ersten Grades, jedoch hatte er noch lange nicht das Recht über mein Leben bestimmen zu dürfen. Trotzdem ließ ich es zu. Da fielen mir immer wieder die Sätze meiner Mutter ein: Du wirst unabhängig auf deinen eigenen Beinen stehen. Du bist ein eigenes Individuum und niemand darf sich in dein Leben einmischen. Du hast die Kapazitäten, die Kompetenzen und die gewisse Stärke, selbst durch das Leben zu kommen. Diese Worte sind sehr schwer zu tragen und zu erfüllen. Bis kurz vor meinem Verlust kam ich regelrecht damit klar und hatte das Gefühl einiges umsetzen zu können, jedoch war die Leere in meiner Seele zu groß um damit jetzt weiterzumachen. Ob die Leere in meiner Seele jemals wieder gefüllt wird?

»Ist dein Reisepass in deiner Tasche?«, die Frage meines Onkels unterbrach meine Gedanken.

»Ja.«, sagte ich leise und nahm mit langsamen Bewegungen meinen Reisepass raus.

»Das Visum bitte noch.«, hörte ich eine strenge Stimme. Kurz sah ich hinauf zum Polizisten an der Kontrolle. Ein ziemlich jünger, allerdings ziemlich strenger Zollpolizist sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Sofort sah ich wieder weg, um mein Visum aus der Tasche zu nehmen und es anschließend ihm zu überreichen, »Geht doch.« Ich sah wieder weg, meine Haare fielen auf mein Gesicht. Jeglichen Blickkontakt wollte ich mit jedem vermeiden. Diese tiefen Augenringe musste niemand sehen. »Schau mir zehn Sekunden lang tief in die Augen.«, sagte der Polizist in einer monotonen Tonlage. Ich schenkte ihm keine Aufmerksamkeit.

»Arya?«, mein Onkel zwickte kurz in meinen Arm. Genervt machte ich meine Haare hinter meine Ohren und stellte mich direkt vor dem Polizisten hin, damit er mein Gesicht mit meinem Passbild analysieren konnte.

»Soll ich noch näherkommen oder passt es dir so?«, fragte ich vorwurfsvoll. Mit großen Augen sah er in mein Gesicht. Wahrscheinlich versuchte er gerade Ähnlichkeiten mit meinem Bild zu finden.

»Weiter.«, gab er von sich genervt. Sofort nahm ich meinen Reisepass und mein Visum, um schnell vor zu laufen. Langsam wurde es mir ziemlich eng in den schmalen Gängen.

»Hast du sechshundert Euro bei dir oder wie kannst du dich trauen einen Beamten zu duzen?«, ich hörte die schnellen Schritte meines Onkels hinter mir. Genervt blieb ich stehen und sah ihn nur mit einem leeren Blick an.

»Werde ich hier jetzt untergeordnet, nur weil er Beamter ist?«, gab ich verdutzt vor mir. Natürlich wusste ich, dass ich für mein Verhalten haften müsste. Ich hatte zwei Semester lang öffentliches Recht in meinem Studium. Da durfte ich viele derartige Fälle lösen. Jedoch war dies gerade mein kleinstes Problem. Solle er mir doch die Bußgeldstrafe geben. Bei meiner starken Diskussionseigenschaft würde er mich einfach loshaben wollen und auf die sechshundert Euro verzichten. Falls ich diese Eigenschaft überhaupt noch besaß.

***

»Möchtest du an die Fensterseite?«, Onkel war gerade dabei sein Handgepäck oben in das Fach zu verlagern, während er mich fragte.

Eine gemeinsame SeeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt