Die schlimmste Kriminalstatistik gab es zu Kains Zeiten; auf einen Schlag löschte der Bursche ein Viertel der Menschheit aus.
Gabriel Laub
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Arya
Ich hatte neun Briefe in meiner Hand, die — an mich adressiert — von der Polizei waren. Es kostete mich eine große Überwindung, diese einzeln zu öffnen und zu lesen, denn ich wusste nicht was auf mich erwartete. Zudem hatte ich fünf weitere Briefe von jeweils verschiedenen Anwälten erhalten. Und ein Brief in einem großen Umschlag, welcher vom Notar war. Ich blickte zu Ümit, der am Esstisch neben mir saß und sich die Briefe ratlos ansah.
»Ich wünschte ich könnte dir helfen, aber das ist wohl der erste Moment, in dem ich letzte bin, der dir helfen kann.«, sagte er leicht überfordert. »Aber ich bin trotzdem bei dir, während du sie öffnest.«, fügte er anschließend aufmunternd hinzu.
Durch die Liebe in seinen Augen sammelte ich meine letzte Kraft zusammen und öffnete erstmals nacheinander die neun Briefe von der Polizei und sortierte sie je nach dem ältesten Zugang, bis zum neusten. Der erste Brief war eine Aufforderung meiner Anwesenheit im Präsidium für das Erkenntnisverfahren. Die restlichen acht Briefe waren Erinnerungen für den ersten Brief. Der letzte kam tatsächlich vor einer Woche an.
In knappen Sätzen erklärte ich Ümit worum es ging und wir einigten uns, dass wir heute noch einen Besuch bei der Polizei erstatten würden.
Anschließend öffnete ich die Anwaltsbriefe. Es waren von fünf verschiedenen Kanzleien, die den Unfall näher unter die Lupe nehmen wollten und mich darum baten, sie als meine Vertreter zu wählen. Als ich Ümit davon erzählte, waren wir derselben Meinung, uns erst bei der Polizei über das Geschehnis schlau zu machen und uns anschließend zu entscheiden, ob wir tatsächlich einen Anwalt brauchten.
Bei dem großen Umschlag vom Notar scheute ich mich ein wenig, diese neben Ümit zu öffnen. Ich hatte eine kleine Vermutung worum es ging und da Ümit davon noch nichts wusste, passte mir der Moment nicht, es ihm jetzt zu erzählen.
»Dieser Brief sieht ziemlich ernst aus. Bin gespannt, was das wohl wird.«, sagte er neugierig und riss den Umschlag auf.
»Nein, nein.«, sagte ich eilig und nahm ihm den Brief weg. Natürlich hatte er mit meinem Verhalten nicht gerechnet und wurde wohl auch suspekt.
»Okay.«, sagte er schließlich verständnisvoll und nahm mich in seine Arme. »Ich traue mich überhaupt nicht mir vorzustellen, was in deinem Inneren gerade abgeht. Aber ich verspreche dir, jederzeit bei dir zu sein, baby.«, flüsterte er gegen meinen Scheitel.
Ich atmete beruhigt aus und lehnte mich gegen seine Brust. Womit hatte ich so einen verständnisvollen Freund nur verdient? Ich war froh, dass ich nicht alleine durch diesen Alptraum gehen musste.
***
»Frau Umut, sind Sie umgezogen und haben vergessen sich umzumelden oder warum konnten wir sie nicht findig machen?«, fragte der Polizeioberkommissar verwirrt und zog seine Augenbrauen zusammen.
»Nein, ich bin nicht umgezogen. Ich hatte bloß einen langen Auslandsaufenthalt bei meiner Familie.«, erklärte ich ihm leise. Es machte mich sehr unsicher, nicht zu wissen, was ich hier tun musste.
»Verstehe. Frau Umut, mir fehlen bestimmte Informationen, über was Sie sich genau bewusst sind, bezüglich des Unfalls.«, fing er an und ich unterbrach ihn.
»Bezüglich dessen habe ich keine Informationen. Sondern nur eine Vermutung, dass der Unfall... wahrscheinlich mit dem Au—... tut mir leid.«, ich stockte und machte eine kurze Pause. Es war unglaublich schwer das auszusprechen was in meinem Kopf war.
»Lassen Sie sich Zeit, Frau Umut.«, sagte der Polizeioberkommissar geduldig und sah mich leicht bemitleidend an. Ich drückte Ümit's Hand auf meinem Schoß und fing wieder an zu reden.
»Bei meiner Ankunft merkte ich, dass das Auto meines Vaters nicht mehr da war. Daher gehe ich davon aus, dass der Unfall mit seinem Auto passierte.«, sagte ich mit fester Stimme. Meine Blicke waren stumm auf den Schreibtisch vor mir gerichtet. Von meinem Blickwinkel her, konnte ich sehen, dass er nickte.
»Ja, da haben Sie richtig vermutet, Frau Umut. Da gibt es jedoch reichlich mehr. Der Unfall, wurde... schuldhaft herbeigeführt, Frau Umut. Es tut mir sehr leid.«
Schuldhaft.
Was?
Mir schossen sofort meine Tränen aus den Augen. Plötzlich hatte ich so viele Fragen, doch mein Hals war wie verschlossen. Da ging nicht mal ein Atemzug durch.
»Ich bin mir sicher, dass Sie gerade sehr viele Fragen haben, Frau Umut. Ich werde versuchen diese Ihnen zu beantworten.«, sagte er nach einer Zeit in einem ruhigen Ton. Ich versuchte mich auf seine Sprache zu konzentrieren, während mein Gehirn mich vor Trauer ablenkte. »Während des Erkenntnissverfahrens haben Gutachter am Auto festgestellt, dass nicht Ihr Vater — als Fahrer — die Schuld hatte, unter dem Lastwagen stecken zu bleiben, sondern ein Täter, mit der Absicht, den Unfall herbeiführen zu wollen.«
»Oh.«, schluchzte ich laut und konnte mittlerweile nichts mehr wegen meinen Tränen sehen. »Tä...täter?«, fragte ich unglaubwürdig und drückte Ümit's Hand fester. Wer würde das tun? Wieso?
»Durch die Kamera in dem Blitzer — in der Nähe des Unfallorts — konnten wir es anschließend festlegen und es als Beweis mit in die Akte aufnehmen. Wir... haben ihn auch gefunden.« Mein Herz schlug so schnell, es war ein Wunder, dass ich noch lebte. »Jedoch redet er nicht. Er sitzt seit zwei Monaten in Untersuchungshaft, hat sich weder verteidigt, noch als schuldig plädiert. Er hat zwar einen Strafverteidiger bekommen, doch ihm erzählt er auch nichts. Was wir von Ihnen brauchen ist, Sie müssen ihn sehen und uns sagen, ob er ein Feind oder Bekannter von Ihnen ist.« Ich soll dem Mörder meiner Familie in die Augen blicken? »Somit könnten wir das Erkenntnisverfahren beenden.«
Während ich dachte, dass mein schlimmster Alptraum der Verlust meiner Familie war, wurde ich jetzt damit konfrontiert, dem Mörder meiner Familie in die Augen zu blicken.
Und genau in dem Moment merkte ich, dass mein Alptraum erst jetzt anfing.
*
A/N
Stay home. Stay safe. ✨Eure Saskia, bye 💜
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Eine gemeinsame Seele
Ficção Adolescente🌙 Vincent van Gogh sagte mal; »Mancher Mensch hat ein großes Feuer in seiner Seele und niemand kommt, um sich daran zu wärmen.« Doch durch sein Feuer, wird sie wieder einen Sinn in ihrem Leben finden. Das Feuer - welches durch Leid in ihm entstand...