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Ein Blatt segelte langsam zu Boden, zumindest vermutete er, dass es ein Blatt war, das ihn gestreift hatte. Sein Kopf lag im Nacken, die Augen geschlossen und er spürte die sanfte Brise auf seiner Haut – er konnte sich kaum ein schöneres Gefühl vorstellen. Milan liebte Wind, Wetter allgemein. Es war eine seiner Arten, die Umgebung wahrzunehmen, ohne sie mit den Fingern zu betasten. Seufzend öffnete er die Augen – um ihn herum war es immer noch stockdunkel. Enttäuschung breitete sich in ihm aus, langsam, aber hartnäckig, wie ein Ölteppich. Dabei hätte ihn das nicht sonderlich überraschen sollen, dieses Spiel spielte er jeden Tag, seit 19 Jahren, seit er denken konnte. Und doch brachte es ihn jedes Mal aufs Neue um, sich eingestehen zu müssen, dass er immer noch blind war, es wohl immer sein würde. Manchmal wünschte er sich jemanden, der ihm die Umgebung beschrieb, vor allem die Farben – aber wie sollte ein Sehender einem Blinden Farben erklären? Seine Mutter hatte es oft versucht, war aber jedes Mal gescheitert. Sein Bruder redete nicht mehr mit ihm.
Wehmütig dachte er an Simon, der, kaum, dass er 14 geworden war, immer nach Zigarettenrauch gerochen hatte und später dann nach Marihuana, zumindest glaubte Milan, dass der damals neue und ihm unbekannte Geruch Gras war. Er dachte an den großen Streit, den sie hatten, bevor Simon beschlossen hatte, nie wieder mit ihm zu reden. Eine Welle der Wut ergriff Milan, als ihm bewusst wurde, dass er niemals wissen würde, wie sein Bruder aussah, ob sie sich ähnelten oder nicht.

FarbenblindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt