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Blau. Wie erklärte man einen Blinden blau? So, dass er auch etwas damit anfangen konnte. „Weil ich blaue Kreise sehe, wenn ich Klaviermusik höre. Aber die Form ist nicht relevant für die Erklärung. Formen kennst du ja, oder? Aber Farben nicht. Und ich versuche gerade, einen Weg zu finden, wie ich dir das am besten erkläre.", beantwortete sie seine Frage.
„Lass dir Zeit", lachte Milan und Leyla verdrehte genervt die Augen.
„Reicht es, wenn ich dir sage, dass Blau wie Klaviermusik ist?", fragte sie und kannte die Antwort jetzt schon.
„Nein", erwiderte er.
Leyla stöhnte auf und fand schließlich, wenn auch sehr stockend, die richtigen Worte: „Blau ist...leicht und beruhigend. Wie ein Wintertag, an dem die Sonne kalt scheint und keine Wolke am Himmel ist, weißt du, was ich meine? Blau ist...klar, da stört nichts." Sie beobachtete Milan, sah, wie es ratterte. Er ließ ein nachdenkliches, gedehntes Brummen verlauten.
„Ich glaube, ich kann's mir ein bisschen besser vorstellen. Noch nicht ganz, aber ein bisschen besser. Ist blau immer gleich?"
Sie wusste nicht warum, aber die Frage überraschte sie, obwohl sie eigentlich auf der Hand lag.
„Nein. Je höher der Ton, desto heller die Farbe. Je heller die Farbe, desto...leichter wirkt sie. Es ist wie...", verzweifelt suchte sie nach dem passenden Wort und Milan schlug leise vor: „Schmerz"
Die Seifenblasen vor ihrem inneren Auge wurde klein und wirkten zerbrechlich. Leyla spürte, wie etwas in ihr zerriss. Treffender hätte es nicht sein können.
„Ja. Je tiefer der Ton, also, der Schmerz, desto dunkler ist alles", meinte sie und legte dabei den Kopf ein wenig schief, dachte über diese Metapher nach und wurde dabei schmerzlich ans Tanzen erinnert. Traurige Stücke waren immer von tiefen Tönen geprägt. Wieso war ihr das vorher nie aufgefallen?
„Das Phänomen kenn ich."
Sie lächelte, irgendwie gefiel ihr die Art, wie er das Wort Phänomen aussprach, so, als wäre es das Schönste auf der Welt.
„Wenn Simon in der Nähe ist, habe ich das Gefühl, alles um mich herum wird dunkler, einfach, weil der Schmerz so viel größer ist."
Bildete sie sich das ein oder wollte er eigentlich noch mehr sagen? Unsicher, wie es nun mal ihre Art war, fragte sie: „Und...funktioniert das auch in die andere Richtung?"
Milan nuschelte zustimmend vor sich hin und machte damit deutlich, dass er nicht weiter darüber reden wollte. Verletzt blinzelte sie die Tränen weg, die ihr in die Augen traten, hatte das Gefühl, dass sie niemals einen solchen Einfluss aus ihn haben würde wie Simon oder...wer auch immer dafür sorgte, dass um ihn herum alles heller wurde. Sie schloss die Augen, kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Als sie sie wieder öffnete, blickte sie direkt in Amys Gesicht, die sie beruhigend anstupste und sich dann neben sie legte, eng an sie gepresst. Erneut überkam Leyla eine Welle von Gefühlen, so widersprüchlich, plötzlich und verwirrend, dass es weh tat.

Noch Stunden später – draußen war es inzwischen dunkelgeworden – saßen die beiden an ihr Bett gelehnt, umringt von den Hunden, diesie wärmten. Leyla kam sich vor wie Mowgli, als er noch bei den Wölfen gelebthatte. Ob er sich genauso beschützt gefühlt hatte, auch, wenn er gar nichtwirklich existiert hatte? Gedankenverloren blickte sie aus dem Fenster undstieß dann einen kleinen Schrei aus.
„Es schneit!", rief sie überrascht.
Es war Ende November und es schneite.
„Welche Farbe hat Schnee?", fragte Milan sofort und sie hätte am liebstengelacht, weil die Frage so vorhersehbar war.
„Weiß", erwiderte sie.
„Und weiß ist...kalt?", fragte er zögernd.
„Ja, genau wie Schnee!", ereiferte sie sich, freute sich, dass er von alleinedarauf gekommen war.
Ein wenig stolz und ziemlich verlegen lächelte er sie an. Ein paar weitereMinuten verstrichen, ohne, dass jemand etwas sagte, dann meinte Milan, er müssewieder nach Hause. Leyla hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde, jedochgehofft, dass er noch weit entfernt war.
Sie begleitete ihn die Treppe herunter, hielt seine Hand und merkte, dass erbeim Herunterlaufen unsicherer war als beim Hochlaufen. Alpha drückte sichimmer wieder an sein Bein, als wollte er ihm zeigen, dass er da war und somitnichts schiefgehen konnte.
An der Tür verabschiedete Milan sich von Leyla, ganz leise sagte er „Danke,dass ich dableiben durfte" und dann an Alpha gewandt: „Tschüss, kleiner Mann,bis morgen!" Freudig bellte der Welpe einmal kurz, als wollte er sagen Na klar!
Leyla stand noch einen Moment in der Tür und sah Milan hinterher, wartete, biser in dem Haus seiner Mutter verschwand. Bismorgen, hatte er gesagt, bis morgen.Das gab ihr Hoffnung und sie fühlte sich seltsam beflügelt.    

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