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Weihnachten stand vor der Tür. Leyla und Milan hatten sich das letzte Mal vor 2 Wochen gesehen – was jedoch keineswegs an Milan lag, es war ihre Schuld. Ohne wirklichen Grund hatte sie sich zurückgezogen, es machte sie wahnsinnig, selbst nicht zu wissen, weshalb. Und was Milan wohl dachte? Ob er dachte, es lag an ihm, daran, dass er blind war? Dass er zu anstrengend war? Sie betete, dass sie sich irrte, dass er das nicht dachte – aber innerlich war sie sich sicher, dass er eben doch genau das dachte. Und wie konnte man es ihm verübeln? Leyla hatte ein unglaublich schlechtes Gewissen, immerhin war es ihre Schuld, sie war so unsicher und dumm, dass sie sich von ihm distanzierte. Und das, obwohl Milan ihr doch so guttat, ihr das Gefühl gab, nicht seltsam zu sein, dass ihre Besonderheit etwas Positives, Nützliches war. Aber vielleicht war es ja auch genau das? Dass diese...Zuneigung sie erdrückte, überforderte? Allerdings merkte man sowas doch, oder? Frustriert stieß sie die Zehen leicht in den vereisten Boden. Nur für den Fall, dass sie jemand sah – aber wer sollte sie schon sehen, sie war alleine im Park. Das hieß, die einzige Person, die eventuell da war – und das konnte Leyla nicht mal mit Sicherheit sagen –, war blind. Ihr Blick schweifte umher, verzweifelt suchte sie Milans Bank. Im Winter sah der Park so anders aus, es fühlte sich an, als wäre sie zum ersten Mal in ihrem Leben hier. Sie blieb stehen, die Hände tief in den Taschen vergraben und beobachtete, wie ihr Atem zu kleinen Nebelwolken wurde. Eigentlich war sie hierhergekommen, um ihre Gedanken verdrängen zu können. Aber ihr wurde bewusst, dass das nicht die Lösung war. Zumindest jetzt nicht. Diesmal musste sie sich ihren Gedanken stellen. Eine Sache jedoch hatte sie dabei nicht ganz bedacht: Mit den Gedanken kamen auch Gefühle miteinher. Das hatte sie nicht gewollt. Allerdings musste sie auch das durchstehen. Sie wurde nächstes Jahr 18, es wurde Zeit, sich mit Konfrontation auseinanderzusetzen. Verdrängen würde ihr nicht dabei helfen, erwachsen zu werden – und auch erwachsen mit ihren Emotionen und Gedanken umzugehen. Sie konnte diesen Dingen nicht ewig aus dem Weg gehen, von diesem Wunschdenken musste sie sich langsam, aber sicher, verabschieden.
Langsam spazierte sie durch den Park, ganz gemütlich und entdeckte immer wieder neue Ecken – oder waren es die gleichen, die sie immer wieder sah, ohne, dass sie sie wiedererkannte? Gerade, als sie wieder nach Hause gehen wollte, sah sie ihn.
„Milan!", rief sie und lief auf ihn zu, „hey, Milan!"
Irritiert drehte er sich um, versuchte, ausfindig zu machen, woher sein Namen gekommen war und vielleicht auch, um festzustellen, wer ihn gerufen hatte. Keuchend blieb sie neben ihm stehen.
„Ich bin's, Leyla, ich..." Sie wollte es erklären, sie wollte ihm erklären, warum sie sich so zurückgezogen hatte. Aber sie wusste nicht wie. Wie sollte sie das auch tun, wenn sie selbst nicht mal den Grund kannte?
„Was willst du?"
Leyla zuckte zusammen, der Schmerz in seiner Stimme ließ die Seifenblasen dunkler schimmern, wie eine verstaubte Glühbirne, die bald durchgebrannt war.
„Ich...", setzte sie erneut an, doch Milan unterbrach sie: „Weißt du was? Ich glaube, ich will es gar nicht wissen. Ich hab schon verstanden, okay, ich bin zu...anstrengend. Und wer will schon was mit einem Blinden zu tun haben? Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dass wir Freunde sein könnten, dass wir uns ergänzen könnten, irgendwie, aber da habe ich mich wohl geirrt."
Er wandte sich ab und sie sah ihn fassungslos an. Er machte ihr Vorwürfe, ohne ihre Erklärung abzuwarten. Ohne ihr die Chance zu geben, sich zu entschuldigen. Er ging einfach so von etwas aus. Sie wusste, dass es nachvollziehbar war, dass er so dachte, aber es tat weh, dass er davon ausging, dass sie ihn wegen seiner Blindheit ignoriert hatte.
„Oh, okay. Wow. Ich...ich wollte dir gerade alles erklären, aber scheinbar hast du dir selbst was zusammengesponnen. Dann spar ich mir das lieber..."
Sie hatte wütend klingen, ihre Wut und Fassungslosigkeit in ihre Stimme packen wollen, aber es war ihr misslungen. Stattdessen klang ihre Stimme dünn, wackelig und tränenerstickt. Ohne abzuwarten, ob Milan noch etwas sagen wollte, drehte sie sich um und ging nach Hause.

Zu Hause angekommen lief sie direkt hoch in ihr Zimmerund wollte Musik anmachen, sie musste sich ablenken und ihre Gefühle mit Musikverstärken, ausnahmsweise. Es würde eine Ausnahme sein, das redete sie sichein. Aber dafür musste sie erstmal begreifen, was sie da überhaupt fühlte. Eswar schwerer als gedacht, was sie irgendwie überraschte. Aus irgendeinem Grundhatte sie gedacht, es gäbe nur ein paar Grundgefühle, wie Freude, Trauer, Wut,Liebe, Hass. Aber es gab so viel mehr, so viele Facetten, Mischungen – es warwie die Farben, die kamen, wenn sie Musik hörte. Eine Weile saß sie da undversuchte, ihre Gefühle zu bestimmen und dazu die passende Musik zu finden. AmEnde – es überraschte sie selbst – fiel ihre Wahl auf Deutschrap. Irgendwas inihr schrie nach dem Rot. Tränen liefen über ihre Wangen, während sieirgendeinen zufälligen Song heraussuchte. Als Leyla daran dachte, wie sie Milandie Farbe Rot beschrieben hatte, hatte sie das Gefühl, ihr Herz zerriss. Rot ist brennend und manchmal schmerzhaft. Beidem Gedanken an diese Worte unterdrückte sie ein Aufheulen, treffender hättesie es wohl nicht ausdrücken können, auch im Nachhinein. Sie vergrub ihrGesicht im Kissen, hoffte, dass sie dadurch ihre Tränen zurückhalten konnte.Plötzlich hörte sie, wie die Tür aufging und dann – klack, klack, klack, klack – zwölf Hundepfoten über ihren Bodenliefen und schließlich auf und neben ihr im Bett landeten. Leyla lachte kurzauf, immer noch mit Tränen in den Augen und wusste nicht genau, ob Abby, Amyund Amor sie trösten oder ablenken wollten. Für einen Moment fragte sie sich,wo Alpha war, verwarf die Frage dann aber wieder. Alpha erinnerte sie an Milanund an Milan wollte sie gerade absolut nicht denken.    

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