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Die Ferien waren vorbei. Es war Dienstag und bereits beim Aufwachen hatte Leyla ein ungutes Gefühl. Am liebsten wäre sie zu Hause geblieben, hätte sich in ihrem Bett verkrochen und gewartet, bis der Tag vorbei war. Aber das würde ihre Mutter niemals erlauben. Also quälte sie sich stöhnend aus dem Bett und taumelte schlaftrunken ins Bad. Auf dem Flur stolperte sie über einen der Hunde, der sich dort im Schlaf breit gemacht hatte. Erschrocken fing sie sich ab, ihr rutschte ein „Alpha!" heraus und erst da realisierte sie, dass es nicht Alpha, sondern Amor war, der den Weg blockiert hatte. Sie wusste nicht genau, weshalb, aber irgendwie machte es sie wütend, dass sie zuerst an Alpha gedacht hatte. Denn Alpha stand in direkter Verbindung zu Milan und sie wusste nicht so recht, wie sie es finden sollte, dass Milan sich so oft in ihre Gedanken schlich. Und sie wusste auch nicht, was sie genau empfand, noch immer nicht. Es machte sie wahnsinnig. Sie hatte sich immer gefragt, wie es sein konnte, dass Leute nicht wussten, was genau sie für eine andere Person empfanden – jetzt wusste sie es und es machte sie verrückt.

Sie war zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn im Klassenzimmer. Noch während sie ihre Sachen auspackte, kam Charlotte an ihren Tisch, stützte ihre Hände auf Leylas Tisch ab und fragte übertrieben freundlich: „Und, wie hat dein Freund auf unser kleines Geschenk reagiert?"
Irritiert sah Leyla sie an.
„Was meinst du?"
„Oh, hat er dir nicht davon erzählt? Zu schade, ich hätte ja zu gern gewusst, wie er es fand."
„Was habt ihr gemacht?", fragte Leyla leise, ihr wurde schlecht beim Gedanken, dass Milan weh getan wurde – egal, ob seelisch oder körperlich.
„Frag ihn das am besten selber. Und grüß die blinde Missgeburt schön von mir."
Mit diesen Worten drehte sie sich und ging zurück zu ihren Freundinnen.
„Was wollte Charlotte denn?", fragte Rebecca, während sie sich neben Leyla auf den Stuhl fallen ließ.
„Ach, nichts", murmelte diese abwesend.
Am liebsten wäre sie wieder nach Hause gegangen. Sie wusste jetzt schon, dass sie sich kein Stück auf den Unterricht würde konzentrieren können.

Leyla versuchte, sich daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal so schnell von der Schule nach Hause gelaufen war. In Gedanken hatte sie noch immer das Bild von Charlotte vor sich, die ihr den ganzen Tag über hämische Blicke zugeworfen hatte.
Ohne es zu merken, hatte Leyla den Weg durch den Park eingeschlagen. Als sie bei Milans Bank vorbeikam und sah, dass sie nicht besetzt war, breitete sich ein ungutes Gefühl in ihr aus. Doch dann sah sie ihn ein paar Meter entfernt laufen, den Blindenstock voran, und ihr Herz blieb vor Erleichterung stehen.
„Milan!", rief sie. „Hey! Milan!"
Der Junge blieb stehen und drehte sich unsicher in ihre Richtung.
„Leyla", erwiderte er überrascht.
„Alles okay?", fragte sie ihn besorgt und sein Schweigen bestätigte ihre Vermutung, dass nicht alles okay war.
„Willst du...drüber reden?", wollte sie zögerlich wissen.
„Ich...ja...", entgegnete Milan so leise, dass sie ihn fast nicht gehört hätte. Ohne ein weiteres Wort hakte sie sich bei ihm unter und führte ihn langsam nach Hause.
„Gehen wir zu dir nach Hause? Oder willst du zu mir?", fragte sie.
„Zu mir. Ich will zu Alpha", murmelte er und klang dabei wie ein kleines Kind.
„Okay"
Den restlichen Weg über schwiegen sie, alles, was man hörte, waren ihre Schritte und das Scharren des Blindenstocks.
Obwohl der Weg nur 2 Minuten dauerte, kam er Leyla wie Stunden vor.
Als sie vor Milan Haus standen, hatte sie das Gefühl, völlig außer Atem zu sein, fast so, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen.

Sie saßen in der Küche und innerlich rang Leyla nochimmer nach Luft.
„Also...was ist los?", meinte sie.
„Ich...im Briefkasten war eine Postkarte und...na ja...sie war von...meinem Vater",stockte er und wirkte so schmerzerfüllt, dass es ihr das Herz zerriss.
„Darf ich sie mal sehen?", fragte sie und entdeckte das Stück Papier noch imgleichen Moment auf dem Küchentresen.
„Klar", antwortete Milan tonlos.
Sie stand auf und der Stuhl scharrte lautstark in der sonst totenstillen Kücheüber den Boden und sie griff nach der Karte, um sie zu lesen.
Ihre Augen erfassten die Worte, wieder und wieder. Irgendetwas störte sie unddann...
„Milan", sagte sie langsam, „das ist nicht von deinem Vater...Die ist gefälscht,das waren Simon und Charlotte! Das ist Charlottes Handschrift!"
Milan wandte seinen Kopf in ihre Richtung und in sein Gesicht war eine Mischungaus Wut, Unglauben und Erleichterung geschrieben.
„Ich...ich...oh wow...okay...", stammelte er und Leyla war klar, dass er nicht wusste,was er sagen sollte.
„Ist das jetzt...gut oder schlecht?", fragte sie unsicher.
„Ich...ich weiß nicht...aber...ähm...ich glaube, das ist gut"
Leyla schwieg.
„Ich meine, es hat wehgetan, weil ich die ganze Zeit dachte, mein Vater hättemich vergessen und ich war mir nicht sicher, ob das gut oder schlecht war, aberjetzt...Verdammt, ich hab absolut keine Ahnung", fuhr er schließlich fort.
„Versuch, das Positive daraus zu ziehen. Und versuch, nicht mehr über deinenVater nachzudenken. Ich weiß, es ist schwer, aber...", sie setzte sich wiederneben ihn an den Küchentisch und griff nach seiner Hand, „...ich weiß, du kriegstdas hin."
„Danke", murmelte Milan und wandte sein Gesicht gen Boden.
Leyla wusste, dass er mit den Tränen kämpfte, sie kannte die gekrümmteKörperhaltung, die hängenden Schultern, das verzweifelte, tiefe Atmen und siehatte das Gefühl, hören zu können, wie Milan sich innerlich einredete: Reiß dich zusammen!
Wie oft war sie an seiner Stelle gewesen? Wegen der gleichen Person, ihremVater? Ihrem Vater, der einen Hirntumor gehabt hatte und aufgrund dessenerblindet war. Ihrem Vater, der sich zwei Monate später das Leben genommenhatte, weil er mit dem fehlenden Sehvermögen nicht klargekommen war. IhremVater, der nie wieder zurückkommen würde. Sie schluckte. Wenn sie zu sehrdarüber nachdachte, würde sie innerhalb weniger Minuten genauso da sitzen wieMilan und damit war niemandem geholfen.
„Milan", sagte sie leise.
„Hm?", machte dieser.
„Darf ich...darf ich dich umarmen?"
„Bitte"
Er klang fast schon quengelig und irgendwie brachte sie das zum Lächeln.
Vorsichtig umarmte sie ihn, ihr Herz schlug schneller und als sie seineKörperwärme spürte, rasten ihr immer wieder zwei Fragen durch den Kopf: Bin ich in Milan verliebt? Und wenn ja, wasmach ich jetzt?
Milan drückte sie an sich, behutsam, aber doch bestimmt, so, als wolle er sienie wieder loslassen. Als sie sich schließlich von ihm löste, merkte sie, wieer den Kopf wandte und aus irgendeinem Grund näherte auch sie sich seinemGesicht, die Zeit verlief plötzlich wie in Zeitlupe. Und dann trafen sich ihreLippen. Und obwohl es nicht das erste Mal war, war es irgendwie...anders.
„Leyla", wisperte er, sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut, auf dengeschlossenen Augenlidern.
„Ja?", erwiderte sie.
„Ich bin in dich verliebt", beichtete er.
Und das war er – der Moment, in dem ihr klar wurde, was sie für Milan empfand.
„Milan, ich...ich fühle nicht das gleiche für dich, ich...tut mir leid."
Mit diesen Worten stand sie auf und ließ ihn allein.    

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