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„Mama!", rief Milan am nächsten Tag, nachdem er aufgestanden war, aus der Tür heraus. Er hatte sie nur einen Spalt breit geöffnet, um möglichst wenig kalten, abgestandenen Zigarettenrauch ins Zimmer ziehen zu lassen.
„Was ist denn?", rief sie zurück, sie saß vermutlich im Wohnzimmer.
Er seufzte, das bedeutete, dass sie sich bereits die Lunge noch schwärzer rauchte, als sie ohnehin schon war. Und das wiederum hieß, dass sie sich so sehr in ihre Depression stürzte, dass sie sich keinen Schritt bewegen würde. Leicht genervt ging er also ins Wohnzimmer und blieb dort im Türrahmen stehen.
„Eigentlich wollte ich fragen, ob du mich in die Stadt fahren könntest, ich brauch noch ein Geschenk für Leyla. Aber ich glaube, das kann ich knicken.", erklärte er und ließ seinen Frust deutlich heraushören.
„Tut mir leid" Seine Mutter klang beschämt und es war, als wäre er der Ältere, derjenige, der bis vor zwei Jahren noch erziehungsberechtigt war und nicht andersherum.
„Na ja, mir wird schon was einfallen. Könntest du den wenigstens ein bisschen lüften?" „Natürlich, Schatz", erwiderte sie.
Einen Moment später war zu hören, wie sie das Fenster öffnete und Milan bekam Gänsehaut, als der Schwall kalte, frische Luft ihn traf.
„Frag doch Leylas Mutter, ob sie mit dir fährt. Sie hat bestimmt auch noch ein paar Ideen, was du ihr schenken könntest", schlug Frau Rattner vor.
„Das ist gar keine schlechte Idee", meinte Milan anerkennend und lächelte aufmunternd, hoffte, dass er nicht an ihr vorbei sah.

Nervös stand er vor der Tür der Nachbarn. Was sollte er sagen, wenn Leyla öffnete? Hey, Leyla, ich wollte eigentlich zu deiner Mutter. Warum? Ach, ich wollte nur fragen, ob sie mir hilft, ein Geschenk für dich zu finden? Wohl kaum. Er würde sich wohl spontan etwas einfallen lassen müssen. Ungeschickt tastete er die Wand entlang, er wusste grob, wo die Klingel war, aber es dauerte eine Weile, bis er sie fand. Zuvor drückte er auf einen Schalter, bei dem es nur ein leises Klicken gab und er vermutete, dass er den Lichtschalter erwischt hatte. Nachdem er es endlich geschafft hatte, die Klingel zu betätigen, dauerte es nur ein paar Sekunden, bis die Tür geöffnet wurde.
„Hallo, Milan, mein Lieber!", begrüßte ihn die Stimme von Leylas Mutter, „Ley ist nicht da, sie ist vor 'ner halben Stunde mit den Hunden zum Tierarzt."
Erleichterung machte sich in ihm breit, so blieben ihm dämliche Ausreden erspart.
„Ich wollte sowieso zu Ihn...dir.", erklärte er und war froh, dass ihm früh genug eingefallen war, dass sie ihm ja bereits das Du angeboten hatte, „Ich brauche noch ein Geschenk für Leyla und meine Mutter ist krank, sie kann mich nicht in die Stadt fahren, deswegen wollte ich fragen, ob S...du mich fahren könntest? Und vielleicht haben Si...hast du ja eine Idee, worüber Leyla sich besonders freuen könnte"
Sein Herz raste, er war unglaublich nervös, kam sich blöd vor. Immerhin hatte er bisher nicht wirklich mit Leylas Mutter geredet.
„Oh, das ist ja total süß von dir. Klar, ich helf dir gern!"
Christiane klatschte vor Begeisterung in die Hände, was Milan irgendwie sympathisch war.

Er saß auf dem Beifahrersitz, das Radio rauschte.
„Oh, wie schön, es schneit! Sieht aus, als kriegen wir doch noch weiße Weihnachten", meinte Christiane fröhlich und nach einem leisen Klicken hörte man die Scheibenwischer quietschend den Schnee von der Frontscheibe wischte. Milan lächelte, lächelte gegen das imaginäre Gewicht an, das an seinem Herzen hing und es schwerer werden ließ, weil er nie wissen würde, wie genau weiße Weihnachten aussahen. Am liebsten hätte er sich dafür geohrfeigt, dass er wieder so im Selbstmitleid versank.
„Erzählst du mir mehr von Leyla? Vielleicht fällt mir ja schon was ein, was ich ihr schenken kann. Ich bin, ehrlich gesagt, immer noch ziemlich ratlos.", bat er sie schließlich und sie erzählte ihm bereitwillig von Leyla. Davon, dass sie früher getanzt hatte, davon, dass sie schon immer Schäferhunde geliebt hatte, davon, dass sie sich schon immer anders gefühlt hatte, ihrer Synästhesie wegen, davon, dass sie ihren Vater verloren hatte. An dieser Stelle stockte sie.
„Leyla hat ihren Vater verloren?", fragte Milan überrascht. Er war, ohne wirklichen Grund, davon ausgegangen, dass er Leylas Vater nie getroffen hatte, weil er immer arbeiten war. Dass sie ein Stück weit ein ähnliches Schicksal teilten, hätte er nicht gedacht.
„Ja", erwiderte Christiane ausweichend, „aber ich denke, es ist besser, wenn sie dir selbst die ganze Geschichte erzählt. Ich will nicht, dass sie am Ende wütend ist. Sie redet wirklich ungern darüber und ich will sie nicht in irgendeine unangenehme Situation bringen. Ich weiß auch nicht, warum ich das überhaupt gesagt hab. Tut mir leid. Vergiss das am besten wieder, ja?"
Milan wusste genau, was sie meinte. Er redete ja auch nicht gern über seine Familie – oder besser gesagt über das, was davon übriggeblieben war.
„Natürlich", murmelte er.
Niemand sagte etwas, beide hingen ihren Gedanken nach. Man hörte nur noch die Scheibenwischer und die Reifen auf dem nassen Asphalt, das Radio hatte Leylas Mutter ausgeschalten. Milan verlor das Zeitgefühl, er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als Christiane irgendwann parkte und fröhlich verkündete: „Wir sind da!" Milan schnallte sich ab und suchte nach de Türgriff, aber sie unterbrach ihn: „Lass nur, ich helf dir gleich."
Er hasste das. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit, der Abhängigkeit. Mal davon abgesehen halfen die meisten übereifrig, wodurch er sich ständig wie ein Kleinkind vorkam. Aber er blieb jedes Mal still, er wollte nicht unhöflich sein. Eine Minute später – mittlerweile hatte Christiane sich abgeschnallt, der Gurt war surrend in die Ursprungsposition gerutscht, und war ausgestiegen – traf ihn die kalte Dezemberluft. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie warm das Auto gewesen war. Er spürte die Hand von Leylas Mutter an seinem Handrücken – eine Geste, die ihn so sehr an Leyla, die er mit einem Schlag unglaublich vermisste, erinnerte, dass sich alles in ihm zusammenzog. Er wandte den Kopf in die Richtung, in der er das Gesicht der Frau glaubte und lächelte.
„Danke", sagte er und ergriff die Hand.
Vorsichtig und behutsam, genauso, wie Leyla es getan hätte, half sie ihm aus dem Auto, schlug die Autotür hinter ihm zu und führte ihn durch die Straßen.
„Weißt du mittlerweile, was du ihr schenken willst?", fragte sie ihn.
„Ja", antwortete er, versuchte, sich auf ihre Stimme und nicht auf die vielen Schritt- und Motorgeräusche um ihn herum zu konzentrieren, „ich denke, ich werde ihr eine Spieluhr schenken. Mit einer Ballerina darin. Denken Sie...Denkst du, das gefällt ihr?"
Leylas Mutter lachte.
„Oh, Milan, das ist wirklich eine wunderschöne Idee. Ich bin mir sicher, dass sie sich darüber freuen wird."

„Hallo, wir suchen Spieluhren. Ist es denn okay, wenn er sie anfasst? Er ist...", Leylas Mutter stockte, Milan wusste, dass sie sich unsicher war, ob sie das Wort benutzen konnte.
„Ich bin blind", vollendete er ihren Satz.
„Äh...ja, genau. Und deswegen...", fuhr sie stammelnd fort.
„Ist doch kein Problem. Spieluhren stehen dahinten.", drang eine tiefe Stimme in Milans Ohr und er mochte den Mann, einfach der Stimme wegen, sie klang angenehm und er war vermutlich ein wunderbarer Geschichtenerzähler. Christiane bedankte sich und führte ihre Begleitung anschließend zu den Spieluhren. Als sie vor den Regalen standen – zumindest vermutete er, dass es sich um Regale handelte –, strich er mit den Fingerspitzen über den Rand eines der Fächer, um herauszufinden, wie lang es ungefähr war. Dabei sagte er, wenn auch eher geistesabwesend: „Übrigens, blind ist ein ganz normales Wort. Ich seh das nicht als Beleidigung oder so. Ich weiß, dass ich blind bin. Das ist kein Geheimnis und früher oder später merkt man es ja sowieso. „Sehend" ist ja auch keine Beleidigung, oder?"
Die Frau sagte nichts und Milan vermutete, dass ihr die Situation total unangenehm war. Er strich erneut über das Brett und er glaubte, zu spüren, wie feiner Staub an seinen Fingerkuppen kleben blieb. Er fragte sich, wie der Laden wohl aussah. Nach ein paar Sekunden ließ er die Hand liegen, er hatte beschlossen, seinem Instinkt zu folgen. Mit der Hand wanderte er ein kleines Stück vor, stieß jedoch kurz darauf gegen die Wand. Das Regal schien nicht wirklich groß zu sein. Vorsichtig ließ er seine Hand nach rechts wandern, bis er schließlich eine der Spieluhren berührte. Für einen Moment überlegte er, sie selbst zu nehmen, entschied sich dann aber dagegen. Er wollte dem Ladenbesitzer-Schrägstrich-Geschichtenerzähler keinen Ärger machen.
„Könntest du...?", fragte er, fühlte sich unwohl dabei.
„Klar", meinte Leylas Mutter. Doch anstatt die Uhr selbst zu nehmen, legte sie seine Hände darum, so dass er sie selbst vorsichtig hervorziehen konnte. Eine Welle der Dankbarkeit ergriff ihn. Ein Ratschen ertönte, ganz leise, es dauerte zwar nur ein paar Sekunden, doch Milan kam es vor wie eine Stunde. Anschließend ein leises Klicken und dann spielte die Spieluhr ihr Lied. Es gefiel ihm, aber irgendetwas in ihm sagte ihm, dass es nicht das richtige war.
„Die ist es nicht", murmelte er, versuchte, seine Enttäuschung zu unterdrücken. Er hatte gehofft, dass sein Instinkt ihn leitete und die erste Spieluhr direkt die richtige war – wie im Film. Aber das Leben war nun mal nicht wie im Film. Unsicher versuchte er, die kleine mit Musik gefüllte Kiste zurückzustellen, bekam es allerdings nicht hin. Christiane nahm sie ihm aus der Hand und ein leises Geräusch verriet ihm, dass sie sie wieder zurück ins Regal gestellt hatte. Das alles verlief schweigend ab.
„Bekomm ich die rechte?", fragte er.
„Natürlich", erwiderte sie und drückte ihm behutsam eine andere Spieluhr in die Hand. Im Gegensatz zur anderen waren sie rund und Milan ertastete feine Filzornamente unter seinen Fingern. Rein äußerlich – beziehungsweise das, was er fühlte – gefiel sie ihm jetzt schon besser als die erste. Erneutes Ratschen und ein leises Klicken, gefolgt von einer sanften, fröhlichen Melodie.
Er lächelte.
„Das ist sie!", sagte er freudig.

Zehn Minuten später verließen die beiden den Laden,Milan trug eine Tüte, in der sich die bereits verpackte Spieluhr befand.
„Warum eigentlich ausgerechnet eine Spieluhr?", fragte Leylas Mutter ihn.
„Leyla versucht, mir Farben anhand von Musik zu beschreiben und die ersteFarbe, also, ich meine, das erste Musikstück, das mir vorgespielt hat, war einBallettstück. Ich weiß nicht, ich fand, dass das irgendwas relativ gutzusammenfasst, was uns verbindet", erklärte er und seine Sehnsucht nach demMädchen wuchs.
„Das ist ein wirklich schöner Gedanke", sagte Christiane leise.    

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