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Er hatte gehofft, dass sie es vergessen hatte. Dass sie vergessen hatte, wie er wie ein Haufen Elend und mit verheulten Augen unten vor der Tür gestanden hatte. Dabei hatte er gewusst, dass Leyla doch wieder darauf zurückkommen würde. So gut kannte er sie inzwischen. Obwohl, nein, er kannte sie immer noch nicht, nicht richtig. Aber er konnte sie inzwischen gut genug einschätzen. Vielleicht bildete er sich das nur ein, aber er meinte zu spüren, wie sich ihr brennender Blick in ihn hineinbohrte, als versuchte sie, seine Gedanken zu lesen. „Wenn ich dir erzähle, was passiert ist, erzählst du mir dann, was du siehst, wenn du die Musik hörst?", fragte er. Zum einen, weil er endlich ein wenig mehr von Farben verstehen wollte, zum anderen, weil er direkt ein neues Anschlussthema brauchte, nachdem er seine „Beichte" abgelegt hatte. Aus irgendeinem Grund war ihm das unglaublich wichtig, er wollte auf jeden Fall vermeiden, dass direkt nach seiner Geschichte ein unangenehmes, schweres, dunkles Schweigen entstand.
„Okay", stimmte Leyla ein, „aber du fängst an"
Damit hatte Milan gerechnet. Unsicher setzte er an: „Ich...Als du...Simon...Ich..." Er fand nicht die richtigen Worte, wusste nicht, wie er am besten anfangen sollte.
„Hey, ganz ruhig, okay? Tief durchatmen. Lass dir Zeit."
Ihre Stimme war wie Balsam, beruhigend und heilend. Er wusste, dass er sich Zeit lassen konnte. Aber er wollte sich nun mal keine Zeit lassen, wollte das Ganze einfach möglichst schnell hinter sich bringen. Zittrig atmete er durch und fing noch einmal an: „Nachdem du gegangen bist, ist mein Bruder..."
„Simon", unterbrach Leyla um ihm zu zeigen, dass sie wusste, von wem er redete.
„Genau, Simon. Also, nachdem du gegangen bist, ist Simon in mein Zimmer gekommen und hat...mich beleidigt." Er hörte, wie seine Gastgeberin scharf Luft einsog, weshalb er schnell hinzufügte: „Aber das ist okay. Ich meine, immerhin hat er wieder mit mir geredet"
Er versuchte, zu lachen, der ganzen Situation ein wenig Humor zu verpassen, woran er kläglich scheiterte. „Es ist lange her, dass er das letzte Mal mit mir geredet hat, weißt du. Und ich hab gewusst, dass das erste Mal seit Langem kein schönes Gespräch werden würde. Dafür kenne ich ihn zu gut. Dafür ist er zu sehr...er selbst. So ist er nun mal. Und das ist in Ordnung so.", erklärte er. „Aber was am schlimmsten war, war, dass er dich beleidigt hat. Es ist mir egal, wenn er mich beleidigt, aber es ist mir nicht egal, wenn er schlecht über dich redet, weil..." Milans Stimme versagte. Er hatte sowieso nicht gewusst, was er hatte sagen wollen. Das Einzige, das er noch hätte erwähnen können, wären die Tränen gewesen, die sein Gesicht geziert hatten, nachdem sein Bruder verschwunden war und alle Emotionen, die er so mühsam zurückgehalten hatte, über ihn hereingebrochen waren. Aber darüber wollte er nicht reden. Nicht jetzt und auch nicht später. Niemals. Angespannt wartete er darauf, dass Leyla etwas dazu sagte und so breitete sich eben doch dieses unangenehme, schwere, dunkle Schweigen aus, vor dem er solche Angst gehabt hatte. Nicht einmal mehr die Klaviermusik lief mehr. Verzweifelt versuchte er, sich nicht zu sehr auf das Geräusch von Leylas Atem zu konzentrieren, versuchte, zu ignorieren, dass er hören konnte, wie es in ihrem Gehirn ratterte, während sie nach einer passenden Antwort suchte. Während er so dasaß, wurde ihm überdeutlich Alpha bewusst, der mal wieder auf seinem Schoß lag und eine unglaubliche Wärme ausstrahlte. Die Anwesenheit des Hundes beruhigte ihn.
„Du musst dazu nichts sagen", murmelte er schließlich leise.
„Ruhe!", schimpfte Leyla, „ich überlege gerade, wie ich dir am besten blau erkläre!"
Damit hatte er nicht gerechnet. Dass sie gar nichts zu seiner Geschichte sagen, ihn gar nicht etwas über seine verheulten Augen oder die Beleidigungen fragen wollte. Es schien, als hätte sie seinen Bericht gehört, aufgenommen, im Kopf gespeichert – gab es auch Gedankenspeicher? Und falls ja, wie waren sie sortiert? Hingen sie mit den Gefühlsspeichern zusammen? – und damit war die Sache für sie erledigt.
„Warum blau?", fragte er, erleichtert, dass sie von sich aus das Thema gewechselt hatte. Das machte das Szenario für ihn um einiges leichter.    

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