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Unter ihnen knirschte der Kies. Die Hunde waren wieder zu Hause, sie waren nur eine halbe Stunde mit ihnen draußen gewesen, dann hatten sie die Vierbeiner bei Leyla zu Hause abgesetzt und sich dazu entscheiden, zu zweit noch einmal in den Park zu gehen. Es war kalt und je länger sie draußen unterwegs waren, desto bemerkbarer machte die Kälte sich.
„Das war vorhin übrigens echt mutig von dir. Oder dreist, das weiß ich noch nicht.", meinte Milan und grinste.
„Was meinst du?", fragte Leyla verwirrte.
„Dass du meine Hand genommen hast, obwohl meine Mutter dabei war"
„Ach so, das. Na ja, wärst du denn alleine reingekommen?"
„Ja? Natürlich! Ich bin vielleicht blind, aber das krieg ich trotzdem hin"
Er lachte und hörte, wie sie schnaubte, ein Zeichen, dass sie das genauso lustig fand wie er. Hoffte Milan zumindest.
„Wir sind da", sagte sie.
Sie griff vorsichtig seinen Arm und zog ihn sanft mit sich. Es überraschte ihn jedes Mal aufs Neue, wie behutsam sie war. Sie hetzte ihn nicht, passte sich seinem Tempo an, gab ihm Zeit, seine Umgebung wahrzunehmen. Ihm kam der Gedanke, dass er für sie wie ein fünfter Hund sein musste, der seine Umwelt ausgiebig beschnüffeln musste – nur, dass er dafür Hände und Ohren benutzte.
„Stop", sagte sie leise und gerade, als das Wort ihren Mund verlassen hatte, stieß er mit Bein gegen die Bank.
„Ich...tut mir leid, ich hätte vorher etwas sagen müssen, ich...Oh Gott", stammelte sie und man merkte ihr an, wie unangenehm ihr das war.
„Alles gut. Ich lebe noch und mein Bein", er bewegte zur Demonstration sein Bein ein wenig, „funktioniert auch noch einwandfrei. Mach dir keine Gedanken", winkte er ab. Er setzte sich hin und obwohl er Leylas Hilfe dafür nicht brauchte, ließ er sie zu, er wollte sie keineswegs beleidigen. Gleichzeitig fragte er sich, ob sie sich fragte, ob er beleidigt war, weil sie ihm half. Das würde zu ihr passen, fand er. Aber es war okay, so wie es war.
„Verdammt, ist mir kalt", fluchte sie leise. Obwohl er keine Ahnung hatte, wo genau Leyla war, hob er den Arm, sagte „Komm her" und als er ihren Körper an seinem spürte, legte er, wenn auch etwas umständlich, den Arm um ihre Schulter. Ein Lächeln huschte über Milans Gesicht, als er merkte, wie sie ihren Kopf an ihn lehnte. Er genoss es, konnte aber nicht aufhören, sich die Frage Was genau bedeutet das? zu stellen. Er war nie in so einer Situation gewesen, es überforderte ihn etwas, aber er tat sein Bestes, das zu überspielen. Seine Gedanken rasten. Er dachte an die Küsse, das ständige Halten der Hände, die Situation jetzt, an damals, als sie nebeneinander im Bett gelegen hatten, an damals, als sie auf seinem Bett gesessen und jeden anderen Moment, in dem sie so vertraut gewirkt hatten. Er wünschte sich, Leyla würde deutlich zeigen, was genau sie für ihn empfand – Freundschaft? Mehr? Weniger? –, aber er konnte das kaum von ihr verlangen, er wusste ja selbst nicht, was genau er fühlte. Freundschaft? Mehr? Weniger auf keinen Fall. Eine so enge Bindung hatte er lange nicht mehr gehabt, wenn er genauer darüber nachdachte, eigentlich noch nie. Wie sollte er da zwischen Freundschaft und romantischer Liebe unterscheiden können? Mit einem Schlag begriff er, wie traurig sein Leben bisher gewesen war. Sie saßen eine Weile so da, die Zeit verging und er verlor sein Zeitgefühl. Milan zuckte irritiert zusammen, als er Schritte hörte – das war noch nie vorgekommen, wenn er mit Leyla hier war. Und mit einem Mal umspülte ihn Panik, dass es Simon sein könnte und seine Freundin, deren Namen er bereits wieder vergessen hatte. Er verkrampfte sich, versuchte aber, seinen Atem ruhig zu halten.
„Es ist alles gut, Milan. Die interessiert sich gar nicht für uns. Wir sind der egal", murmelte Leyla und vielleicht irrte er sich, aber er meinte, herauszuhören, dass sie nicht ganz die Wahrheit sagte. Ihre Stimme klang irgendwie anders, wenn sie versuchte, irgendwas zu verschweigen.
„Hmm", machte Milan, sagte aber sonst nichts.
„Wirklich", sagte sie nachdrücklich.
Er seufzte, meinte „Ich glaube dir doch" und zog sie näher an sich heran. Für einen Augenblick glaubte er, dass sie das nicht wollte, doch dann versuchte sie, noch näher an ihn heranzurücken, fast so, als wollte sie mit ihm verschmelzen. Milan wusste nicht, wann er sich das letzte Mal so geliebt gefühlt hatte. Bitte lass diesen Moment niemals enden, dachte er sehnsüchtig. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, erinnerte Leyla ihn daran, dass bald der Arzttermin war. Wütend presste er die Kiefer aufeinander, um zu verhindern, dass ihm etwas herausrutschte.

„Achtung, Stufe", sagte sie in regelmäßigen Abständen. Mit der einen Hand hielt er sich am Geländer fest, die andere lag auf ihrem Unterarm, er hatte sich bei ihr untergehakt. Langsam, Stufe für Stufe, führte sie ihn nach oben, achtete darauf, dass er nicht stolperte, fragte ihn immer wieder, ob sie zu schnell war. Ihre Rücksichtnahme brach ihm fast das Herz. Nicht auf diese schmerzende Weise, die einem die Luft nahm, sondern auf diese warme Weise, die einen zum Lächeln brachte und einem Hoffnung gab.
Zehn Minuten später saßen die beiden im Wartezimmer der Augenärztin. Milan war nervös, wippte mit dem Bein auf und ab, atmete ein paar Mal tief durch, doch es brachte nichts – bis Leyla ihre Hand auf sein Knie legte. Diese kleine Geste – von der er hoffte, dass sie den anderen Leuten, die mit ihnen im Raum saßen, nicht allzu sehr auffiel – reichte aus, um ihn zu beruhigen. Nicht vollkommen, aber dennoch so sehr, dass er sein Bein stillhalten konnte. Während er sein Gesicht gen Boden senkte, lächelte er. Er wollte nicht, dass Leyla merkte, wie gut sie ihm tat.

Die Untersuchung ging schnell und war unspektakulär,es war das übliche Prozedere. Gerade, als Milan nach Leylas Hand greifenwollte, damit sie ihn herausführen konnte, sagte sie: „Warte kurz, ich würdegerne noch mal kurz allein mit Frau Dr. Mahlberg reden"
Aus irgendeinem Grund verletzte ihn das, er fühlte sich zurückgewiesen, wie vorden Kopf gestoßen. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und tappteregelrecht durch das ihm eher unbekannte Zimmer, er merkte, dass er ohne seinenBlindenstock verloren war, egal, wie sehr er ihn hasste.
„Augenblick", hörte er Leyla sagen, spürte eine Sekunde später ihre Körperwärmean ihm und sie führte ihn vor die Tür.
„Ich bin gleich wieder da", murmelte sie und Milan hörte, wie die Türgeschlossen wurde. Da er nicht wusste, wie viel Platz war und ob dort irgendwoStühle standen, blieb er stehen, fühlte sich irgendwie dämlich und nutzlos. Durchdie geschlossene Tür hörte gedämpft, wie seine Augenärztin und Leyla redeten,verstand aber nicht, was sie sagten. Das frustrierte ihn und er wurde von einererneuten Welle von Ablehnung überrollt. Und obwohl dieses Gefühl so vertrautwar, zerriss es ihn. Aus dem einfachen Grund, dass er es nicht mit Leylaverband. Er hörte, wie die Tür geöffnet wurde, machte aus Reflex einen Schrittrückwärts, um Leyla Platz zu machen.
„...Tschüss, schönen Tag noch!", verabschiedete Leyla sich freundlich undberührte mit ihrem Zeigefinger vorsichtig Milans Handrücken, als wollte sie ihmsagen Jetzt bin ich wieder da für dich.Und er war froh über diese Geste, aber irgendetwas hinderte ihn daran, vollkommendarauf zu vertrauen. Er hasste es, dass seine zerrüttete Familie ihm solchementalen Schwierigkeiten bereitete. Als hätte er nicht ohnehin schon genugdamit zu kämpfen, dass er blind war.    

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