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Er spürte, dass sie etwas belastete, irgendwas, das schlimmer war, als der ehemalige Wunsch danach, nicht mehr sehen zu können, und obwohl ihn der Gedanke, dass jemand freiwillig blind werden wollte, wütend machte, konnte er ihr nicht böse sein. Immerhin war es nur ein Gedanke gewesen, sie hatte es nicht umgesetzt. Niemand konnte seine eigenen Gedanken und Wünsche beeinflussen. Für einen Moment dachte er darüber nach, sie zu fragen, was ihr so sehr auf der Seele brannte, aber er brachte den Mut nicht auf. Milan wollte sie nicht überfordern, wusste nicht, ob es okay war, ihr noch ein schweres Geständnis zu entlocken.
„Danke, dass du mir das gesagt hast", murmelte er schließlich, tastete nach ihrer Hand, stieß dabei erst gegen Alphas Kopf und dann gegen den Rücken einer der anderen Hunde, eher er ihre Hand zu fassen bekam und sie sanft drückte. Er hoffte, dass sie lächelte und er wünschte sich so sehr, dass er ihr Lächeln sehen konnte, dass es ihn fast zerriss. Generell niemals wissen zu können, wie genau sie aussah, machte ihn fast wahnsinnig.
„Darf ich dich was fragen?", fragte er zögerlich.
„Hast du doch schon", lachte Leyla, fügte dann aber ein „Klar" hinterher.
„Wie siehst du aus?"
„Was?"
„Wie siehst du aus? Welche Farbe haben deine Haare, deine Augen? Ich weiß, ich hab dich das schon mal gefragt, aber...um ehrlich zu sein...ich hab's vergessen. Und darf...darf ich dein Gesicht anfassen, ganz vorsichtig, damit ich weiß, wie deine Lippen geformt sind?"
Er hörte ihr unsicheres Lachen, bereute seine Frage sofort.
„Darfst du, aber erst beschreib ich dir meine Augen- und Haarfarbe, okay?", sagte sie schließlich.
„Meine Augen sind blau, sie sind Klaviermusik"
Er lächelte, er mochte Blau – oder besser gesagt, die Klaviermusik, die er dank Leyla damit verband.
„Und meine Haare sind blond. Blond ist...ein bisschen wie gelb, kleine Kinder malen blonde Haare eigentlich immer gelb.", fuhr sie fort.
„Kannst du mir gelb beschreiben?", bat er.
„Ich sehe gelb, wenn im Radio Popmusik läuft, aber nur deutsche. Mein Gehirn unterscheidet zwischen den Sprachen, warum auch immer.", erklärte sie und Milan gab ein zustimmendes Geräusch von sich.
„Erzählst du mir mehr von Gelb?"
Es herrschte Stille, Leyla schien nachzudenken. Dann fing sie an: „Kinder malen die Sonne gelb. Du weißt schon, dieses wärmende Gefühl, wenn die Sonne auf deine Haut strahlt. Gelb wird generell mit Fröhlichkeit verbunden. Und mit dem Sommer. Hast du mal Löwenzahn angefasst? Der ist auch gelb und total weich."
Er hörte, wie sie lächelte, während sie von Löwenzahn redete und irgendwie machte ihn das glücklich. Milan fragte sich, ob es dafür einen Grund gab. Doch er hatte nicht den Mut, sie danach zu fragen.
„Also trägst du auf deinem Kopf warme Sonne und in deinem Gesicht sitzt Klaviermusik?", fragte er stattdessen.
„Ja", sagte sie und da war es wieder, dieses hörbare Lächeln, das in ihm ein wohliges Kribbeln auslöste. Er wollte ihr noch so vieles sagen, Dinge, die vor Ehrlichkeit zu platzen schienen. Aber er wollte sie nicht komplett überfordern, weshalb er schwieg und die Worte, die wie Schnaps seine Kehle verbrannten, runterschluckte. Alpha leckte ihm übers Kinn, was den Jungen zum Lachen brachte.
„Das ist ein Zeichen von Zuneigung. Oder er hat Hunger, das kann auch sein", meinte Leyla, ließ seine Hand los und der Bewegung des Sitzpolsters zufolge schien sie auf zu stehen.
„Ich bin gleich wieder da", hörte er sie sagen und dann war für einen Augenblick Ruhe, ehe man etwas entfernt rascheln und klackern hörte. Sofort bewegte sich das Sitzpolster erneut und auch das Gewicht auf seinem Schoß verschwand. Er vermutete, dass Leyla den Hunden Futter hingestellt hatte.
„So", sagte sie, ihre Stimme war wieder näher.
Milan juckte es immer noch in den Fingern, Leylas Gesicht zu betasten, um herauszufinden, wie ihr Gesicht aussah, zumindest grob. Aber auch diese Frage zu stellen, ein weiteres Mal, wagte er nicht. Aus einem ihm unerklärlichen Grund fühlte er sich gehemmt, fast schon blockiert. Er merkte, wie das Polster sich erneut bewegte und er nahm Leylas Geruch, Apfel, war, ganz leicht – zum ersten Mal nahm er ihn bewusst wahr.
„Alles okay?", fragte Leyla nach einer Weile. Erst jetzt fiel ihm auf, wie ruhig er die ganze Zeit gewesen war.
„Ja", sagte er schnell, „klar" und er wusste, dass er nicht besonders überzeugend klang, aber es war ihm egal.
„Hm", machte Leyla, die ihm natürlich kein Wort glaubte. Milan konnte nicht aufhören, nachzudenken. Darüber, dass sein eigener Bruder ihn hatte schlagen wollen, darüber, dass was für ein Glück es war, dass Leyla und die Hunde aufgetaucht waren, darüber, dass er seiner Mutter noch alles erzählen musste und darüber, wie sie wohl reagieren würde. Für einen Moment überfiel ihn Panik, hinterhältig, es war, als wäre er eine Maus und die Panik eine gefräßige, gierige Katze. Doch dann fiel ihm Leylas Es ist alles okay ein und er wiederholte es in seinem Kopf, immer wieder und wieder, solange, bis die einzelnen Worte ihre Bedeutung verloren hatten und nur noch eine abstruse Aneinanderreihung von Lauten waren. Er fühlte sich irgendwie leicht und er hatte das Gefühl, dass er jeden Moment einfach durch die Luft schweben würde. Aber das passierte nicht, er blieb genauso sitzen, eingesunken in das Polster des Sofas. Stattdessen fing sein Herz an, sich zusammenzuziehen und für einen Moment begriff er nicht ganz, warum, bis ihm klar wurde, dass er Leyla vermisste – und dass, obwohl sie doch gerade mal ein paar Zentimeter von ihm entfernt saß. Wie konnte es sein, dass man jemanden vermisste, der doch so nah war? Seine Hand zuckte, als wollte sie ihm mitteilen, dass sie wieder die von Leyla halten wollte, doch Milan riss sich zusammen. Er wollte nicht aufdringlich wirken, sie nicht einengen. Also ließ er seine Hand, wo sie war und lauschte dem Schaben der Metallschüsseln, das man immer noch vereinzelt hörte.

„Milan?"
Es war bereits eine ganze Weile her, dass einer der beiden etwas gesagt hatte, die Hunde waren nach dem Fressen noch einmal kurz vorbeigekommen, hatten mit Leyla und Milan geschmust, waren dann aber wieder gegangen.
„Ja?", erwiderte er.
„Wir müssen morgen zum Augenarzt. Dr. – wie hieß er nochmal? Grunsch? Ja, genau – Also, Dr. Grunsch meinte ja, dass das mal wieder notwendig ist.", sagte sie, klang irgendwie besorgt und mütterlich. Normalerweise hätte er das zu schätzen gewusst, doch diesmal wollte er nicht, dass sie so war.
„Ja, ich weiß", murmelte er, versuchte, nicht gereizt zu klingen, „Aber es hat schon seinen Grund, warum ich nicht gern zum Augenarzt gehe"
Wütend presste er die Lippen aufeinander, damit ihm nichts herausrutschte, das er später bereuen könnte.
„Ich schätze, du willst mir nicht verraten, was der Grund ist?", fragte sie unsicher und er gab ein bestätigendes Geräusch von sich.
„Okay", sagte sie leise und damit kehrte wieder Stille ein. Aber diesmal war es keine schöne, angenehme Stille, sondern eine schmerzende, drückende, die Milan die Luft zum Atmen zu nehmen schien.

„Oh Gott, Schatz, was ist denn mit dir passiert?",rief Milans Mutter schockiert, als er versuchte, sich am Wohnzimmer vorbei zuschleichen, um direkt ins Bett zu gehen. Allerdings war er mit dem Blindenstockgegen die Wand gestoßen, was nicht ganz geräuschlos blieb. Milans blinde,defekte Augen brannten vom Zigarettenqualm und er wollte sich gar nichtausmalen, wie sehr sich der Zigarettenkonsum seiner Mutter steigern würde,würde sie von der Sache mit Simon erfahren.
„Ich bin gestürzt", erwiderte er schnell und wollte weitergehen, doch seine Mutterhielt ihn fest.
„Das glaub ich dir nicht", widersprach sie, ihr Gesicht war nah an seinem, ihrZigarettenatem stieg ihm in die Nase. Am liebsten hätte er sich umgedreht undwäre gegangen, aber er wusste, dass sie das verletzen würde, also blieb er stehenund versuchte, durch den Mund zu atmen, um nicht zu sehr daran erinnert zuwerden, wie zerrüttet seine Familie war.
„Es war aber so. Ich bin gestürzt und mehr war da nicht"
Er reagierte heftiger, als beabsichtigt und er wusste, dass seine Mutter ihmseine Ausrede jetzt noch weniger abkaufte. Seine Mutter zerrte ihn insvollgequalmte Wohnzimmer und seine Augen fingen an zu tränen, so sehr branntedie nikotingeschwängerte, stickige Luft in ihnen. Ein paar Sekunden späterdrückte sie ihn rücksichtslos aufs Sofa, achtete nicht wirklich darauf, ob errichtig auf der Sitzfläche saß oder ob er fast von der Kante rutschte. Erwünschte sich, sie wäre – zumindest in dieser Hinsicht – mehr wie Leyla.
„Milan, Schatz, erzähl mir, was passiert ist. Ich glaube dir nicht, dass dueinfach nur gestürzt bist. Und...oh Gott, dein Blindenstock ist ja völligkaputt!", drängte sie, klang besorgt und aufgeregt.
„Ich will...Mama, kannst du das bitte lassen", er spürte, wie sie neben ihmherumzappelte und fuhr nach einem „Oh, entschuldige, Schatz, tut mir leid"ihrerseits fort: „Ich will da wirklich nicht drüber reden"
„Bitte, Milan. Red mit mir. Was ist passiert? Wer war das?"
Ihre Stimme klang traurig und vielleicht bildete er es sich ein, aber ermeinte, zu hören, wie ihre Stimme zitterte, sich langsam ein Kloß in ihrem Halsbildete. Er schluckte, wollte es ihr wirklich nicht sagen, aber er wusste, dasssie keine Ruhe geben würde, bis er ihr die ganze Geschichte erzählt hatte. Eratmete tief durch und fing an, zu erzählen.
„...und deswegen ist mein Stock auch so kaputt", schloss er schließlich. SeineMutter sagte nichts, er hörte nur ihr leises Schluchzen. Und dann schließlichein Rascheln, gefolgt von einem leisen Klicken. Ein tiefes, zittriges Ausatmen.Zigarettenrauch stieg Milan in die Nase. „Mama...", setzte er an, wollte sieeigentlich bitten, nicht zu rauchen, wenn er nebendran saß, entschied sich dannaber doch dagegen, ihm war bewusst, dass sie das jetzt brauchte, so, wie erjetzt eigentlich Leyla bräuchte.
„Ja?", fragte seine Mutter, ihre Stimme klang kratzig und schwer.
„Ich hab dich lieb. Mir geht's gut. Ich hab mich damit abgefunden, dass Simonund ich uns nie wieder vertragen werden."
Er lächelte, hoffte, dass er in ihre Richtung schaute. Seine Mutter gab keineAntwort von sich.
„Ich...ähm, ich geh dann mal", murmelte Milan, stand auf und tastete sichvorsichtig durch den Raum in den Flur. Obwohl er seit Jahren die gleicheStrecke lief, war er noch immer etwas unsicher. Das lag vermutlich daran, dassSimon früher aus Wut gerne mal hier und dort kleine Dinge verstellt hatte, umihn zu ärgern.     

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